PUBLIKATION

Magazin Andante

ZUSAMMENARBEIT

Severin Jakob (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.11.2023

AUSZEIT MIT FUNFACTOR

 

Zumba, Fitness, Disco, Chor – baden, singen, chillen. Die Freizeitgestaltung geniesst bei andante einen hohen Stellenwert. Dabei ist man auf externe Partner angewiesen. Auch Freiwillige spielen eine wichtige Rolle.

 

Ein Blick ins Jahresprogramm 2023 des Wohnheims in Eschenz reicht, um zu sehen, wie ernst man hier das Thema Freizeit nimmt. Kein Monat vergeht, ohne dass nicht ein gemeinsamer Ausflug oder eine Veranstaltung auf der Agenda steht. «Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind zwischen 25 und 40 Jahre alt und stehen mitten im Leben», erklärt Heimleiter Erwin Lichtensteiger. «Sie wollen etwas erleben.» Vor allem am Wochenende, wenn die Beschäftigung in den Ateliers oder anderweitige Arbeitseinsätze wegfallen, versuche man, sinnvolle Aktivitäten auf die Beine zu
stellen.


Fussballmatch in Winterthur, Volleyballcup in Amriswil, Mittelaltermarkt auf Schloss Laufen, Sporttag in Kreuzlingen, Weihnachtszirkus in Frauenfeld, Stadtlauf, Minigolf und anderes mehr steht auf dem Programm. Keinesfalls fehlen darf der monatliche «Fyrabig-Treff», der in der «Werkelei» in Stein am Rhein stattfindet. Angesagt ist hier ein gemütliches Beisammensein von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Aber auch Events mit Action- und Funfaktor sorgen immer mal wieder für Abwechslung. Im Frühling vergnügte man sich im Europapark in Rust. Kurz darauf stand das Konzert von DJ Bobo auf dem Programm. Im Sommer gings ans «Summerdays Festival» nach Arbon und im Herbst dann – Achtung, Highlight! – ans Konzert von Helene Fischer. Da ruft man nur noch: atemlos!

 

«Nicht alle Klienten sind gleich stark auf die durch uns organisierten Freizeitangebote angewiesen. Bewohner, die einen engen Kontakt zu Eltern und Geschwistern pflegen, erleben auch im privaten Umfeld so einiges», betont Erwin. Hinzu kommen Ferienlager für andante-Klienten, die entweder vom Personal selber organisiert werden oder mithilfe von externen Partnern zustande kommen. Hier wird versucht, Wünsche und Ideen von Klienten zu berücksichtigen, und sorgfältig abgewogen, was für die einzelne Person zumutbar und sinnvoll ist. Fest steht: So unbeschwert und spontan, wie Menschen ohne Beeinträchtigung ihre Freizeit und Ferien planen können, läuft es für Menschen mit Beeinträchtigung und deren Angehörige nicht.

 

Wichtig zu wissen: Die Leistungsvereinbarungen, die andante mit den Kantonen hat, sehen keine finanzielle Mittel für den Posten «Freizeitgestaltung» vor. Einem Schwimmbad- oder Kinobesuch steht gewiss nichts im Wege, aber Aktivitäten, die mit hohen Kosten oder Teilnahmegebühren verbunden sind, liegen nicht drin. Die Freizeitgestaltung muss über die IV-Beiträge finanziert werden und diese sind bekanntlich eher knapp bemessen. Umso wichtiger ist der andante-Ferienfonds, der über Spendenaufrufe finanziert wird. Das auf diese Weise gesammelte Geld wird auf die drei andante- Standorte in Winterthur, Eschenz und Steckborn verteilt und dort sinnvoll investiert.

 

Ob Veloferien am Bodensee, Wandern im Toggenburg, Badeferien am Comersee oder Städtesafari in St. Gallen: Für Tapetenwechsel ist gesorgt. Dabei ist man sich bewusst: Viel Spass zu haben, bedeutet nicht automatisch, viel Geld auszugeben. Eine Fahrt mit dem Pedalo, ein Picknick im Park, ein Spaziergang durch den Wald – unbeschwerte Momente sind auch kostengünstig möglich. «Für das Personal bedeuten die Ferienlager natürlich primär Arbeit. Doch sorgen sie auch beim Team für eine Abwechslung im Berufsalltag», betont Thomas Diener, Geschäftsführer von andante. Die Betreuer lernen die Klientinnen und Klienten in ganz neuen Situationen kennen. Für Klienten, die – aus welchem Grund auch immer – für (externe) Gruppenferien nicht infrage kommen und auch im privaten Umfeld keine Möglichkeiten haben, sucht andante individuell nach Lösungen.

 

Der andante-Geschäftsführer hat als junger Leiter bei der «Pfadi trotz allem» (PTA), einem Angebot für beeinträchtigte Kinder und Jugendliche, selber Übungen und Lager organisiert und erlebt, wie wichtig Freizeitaktivitäten für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sind. Er erinnert sich an halsbrecherische Schlitteltouren auf dem Albula, Übernachtungen im Zeltlager, Grillade und Gesang am Lagerfeuer, spontane Freilufttheater im Wald. «Selbst wenn nach Dauerregen die Rollstühle auf dem Zeltplatz im Sumpf versanken, hatten wir immer noch einen riesigen Spass zusammen», so Diener.


Der Geschäftsführer betont, dass das Thema Freizeit an allen Standorten einen hohen Stellenwert geniesse und das Personal sich diesbezüglich stark engagiere. Sei ein Klient spezifisch auf der Suche nach einem passenden Hobby, das er regelmässig ausüben möchte, erhalte er ebenfalls Unterstützung. Allerdings hänge die Freizeitgestaltung auch stark von den Ressourcen ab, die ein Klient mitbringe. Ist die Person mobil? Kann sie einen Fahrplan lesen? Fühlt sie sich in einer Gruppe wohl? Braucht es eine Person, welche sie auf dem Weg in einen Kurs begleitet? Klar ist: Personen, die in einer andante-Aussenwohngruppe leben, sind diesbezüglich selbstständiger und können sich auch gegenseitig unterstützen.


So wie die beiden andante-Klientinnen Sarah und Andrea, die relativ selbstständig in Eschenz wohnen. Die jungen Frauen wollten etwas für ihre Kondition und Koordination tun und durch regelmässiges Training gleichzeitig ein paar Kilos verlieren. Was lag da näher, als endlich mal einen Zumba- Kurs zu besuchen? Jeden Montag fahren sie nun zusammen mit dem Bus nach Stein am Rhein und bewegen sich zusammen mit Frauen ohne Beeinträchtigung im Intervall-Workout zu lateinamerikanischer Musik. Sport steht auch bei andante-Klient Philipp hoch im Kurs. Er besucht jeden Donnerstag selbstständig ein kleines Fitnessstudio in Stein am Rhein. Hat er das Ausdauertraining an den Geräten absolviert, geht er ins Migros-Restaurant nach Frauenfeld und geniesst dort sein wohlverdientes «Poulet im Chörbli». Philipp ist obendrein noch handwerklich begabt und hat in der Anfertigung von Skulpturen aus Sandstein und Marmor eine weitere Aktivität gefunden, die ihm Freude bereitet. Ausüben kann er sie im Atelier eines professionellen Bildhauers in Wigoltingen.


Idealerweise, so Thomas Diener, formulieren die Klienten selber, was sie reizt oder interessieren würde. «Falsch wäre, Wünsche oder Ideen von Anfang an abzublocken mit der Begründung ‹Das kannst du sowieso nicht› oder ‹Ist zu kompliziert›.» Klienten werden in ihren Interessen ernst genommen und sollen Erfahrungen sammeln können – positive wie negative. Frustration lässt sich mit dieser Strategie nicht immer verhindern. Aber wenn sich zeigt, dass eine Aktivität aus irgendeinem Grund nicht realistisch ist, wird gemeinsam nach Alternativen gesucht, nach einem Hobby, für welches der Klient bessere Voraussetzungen mitbringt oder die Rahmenbedingungen einfacher sind. Oft, so Diener, sei die Freizeitgestaltung ein Prozess, der Zeit brauche: Man surft im Internet, nimmt mit Vereinen Kontakt auf, schaut, wo welche Angebote existieren, ob es ein Probetraining gibt usw. «Je besser unser Personal die Klienten kennt, desto einfacher wird es, etwas Passendes zu finden.»

 

Was für Menschen ohne Beeinträchtigung gilt, trifft auch auf die Klientinnen und Klienten von andante zu. Durch ein Hobby schliessen sie neue Kontakte. Egal, ob Sport, Musik oder eine kreative Tätigkeit: Der soziale Aspekt darf nicht unterschätzt werden – Freizeitgestaltung dient somit als Möglichkeit von Inklusion und Teilhabe und nicht zuletzt der Stärkung des Selbstvertrauens. Dies illustriert auch das Beispiel von Christoph, dem 61-jährigen andante- Klienten, der in einer andante-Aussenwohngruppe in Steckborn wohnt und in Eschenz im gemischten Kirchenchor mitsingt. Geprobt wird jeden Freitagabend. Christoph ist motiviert und stolz, dass er in der Gruppe von Nichtbehinderten mitsingen darf und dort als vollwertiges Mitglied willkommen ist. Gewissenhaft, wie er ist, verpasst er keine Probe und macht sich mit Melodien und Texten vertraut. Steht ein öffentlicher Auftritt bevor, steigt bei Christoph das Lampenfieber. Applaudiert am Ende das Publikum, erhellt sich seine Miene.

 

Wichtig sind für andante auch externe Partner wie «Procap», «Insieme», «Plus Sport Schweiz» und «Plus Sport Thurgau». Letzterer bietet explizit Kurse für Menschen mit Behinderung an, die auch von andante-Klienten beansprucht werden. Die Gründung des Vereins geht auf das Jahr 1965 zurück, als in Frauenfeld der erste «Invaliden-Sportverein» im Thurgau gegründet wurde. Das Motto hier: «Bewegung und Begegnung». Auf dem Programm stehen polysportive Turnstunden mit Sitzball, Torball, Fussball, Schwimmen, Unihockey, Aquafit u.a. Je nach Kapazitäten, Lust und Laune besuchen die Teilnehmenden nur die Turnstunden, oder sie nehmen zusätzlich an kantonalen und eidgenössischen Spiel- und Sporttagen teil. Ramon Gasser, Teamleiter der andante-Institution in Steckborn, greift für seine Leute auch gerne auf die Angebote des Vereins TAB Thurgau zurück. Dieser organisiert Tagesausflüge, Ferienlager und Bildungskurse für erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung. Das Angebot ist unglaublich vielfältig und reicht von «Töpfern», «Trommeln», «Klettern», über «Cocktail-Abend», «Kräuterküche», «Wohlfühl-Yoga» bis zum «Raclette-Abend». Sogar Spaziergänge mit Eseln sind möglich oder Spritzfahrten mit dem Oldtimer-Postauto. «Manchen Klienten tut es gut, Ferien und Freizeit auch mal ausserhalb der Institution zu verbringen. Sie kommen dann aus der Komfortzone und müssen sich auf neue Situationen einlassen», so Gasser.


Eine ideale Gelegenheit dafür bietet auch das Angebot im Winterthurer Salzhaus. Dort findet jeden zweiten Monat eine Disco für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung statt, ein Event, der gemäss Raffaela Kolb vom Salzhaus «super ankommt». Gut und gerne 300 Personen besuchen jeweils den Anlass, der um 19 Uhr startet und um 22 Uhr endet. Initiiert wurde die Disco vom Salzhaus-Team selber, dem es ein Bedürfnis war, ein inklusives, niederschwelliges Angebot in der Region zu schaffen. Entsprechend nimmt das Setting Rücksicht auf Bedürfnisse von körperlich bzw. kognitiv beeinträchtigten Menschen. Die Bar ist rollstuhltauglich, auf Stroboskope wird bei der Lichtshow verzichtet und der Sound ist nicht zu heftig. Die Party geht trotzdem ab, wie andante-Klient Pascal Müller weiss. Er gehört schon seit Jahren zum Salzhaus-Team und schenkt hinter dem Tresen als Barkeeper Getränke aus.

 

Zu guter Letzt gibt es auch andante-Klienten, die ihre Freizeit am liebsten in den vertrauten vier Wänden verbringen, die gerne malen, basteln, kochen, puzzeln, Musik hören, auf dem Sofa chillen, einen Film schauen, am Töffli rumschrauben oder sich die Zeit mal für eine Weile am Handy vertreiben. Atdhe zum Beispiel, ein Klient aus dem Wohnheim in Eschenz, hat manchmal schlicht keinen Bock auf Gesellschaft und geniesst seinen Feierabend gerne alleine. Als er die Idee von täglichen Joggingrunden ins Spiel brachte, prüfte er mit seiner Bezugsperson eine entsprechende Tour. Bereits nach wenigen Testrunden fühlte sich Atdhe sicher und zog alleine los. Seither joggt er bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Die Bewegung an der frischen Luft tut ihm gut. Er geniesst die von Wäldern und Feldern geprägte Landschaft. Und ist mittlerweile topfit.