PUBLIKATION

Personalzeitung Kanton Zug

ZUSAMMENARBEIT

Nora Nussbaumer (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.7.2023

AB IN DEN WALD

 

Nirgendwo ist es an heissen Sommertagen so angenehm kühl wie im Wald. Die Beliebtheit des sensiblen Ökosystems bei der Bevölkerung hat aber auch problematische Seiten. Unterwegs mit Revierförster Roman Merz vom Amt für Wald und Wild.

 

Der Terminplan, den die Schreibende für Interview und Recherchen mit Förster Roman Merz ausgeheckt hat, wird noch am Vorabend über den Haufen geworfen. Zu später Stunde hat sich im Gebiet Raten ein Wildunfall mit einem Reh ereignet. Merz hat Pikett und muss anderntags frühmorgens mit seinem Hund zum Unfallort auf Spurensuche und abklären: Ist irgendwo ein verletztes Tier zu finden, das man vom Leid erlösen muss?

 

Statt um 8 Uhr trifft Merz eine Stunde später in seinem Büro an der Ägeristrasse 56 in Zug ein; an der Leine Schweisshündin Pakuna, die das Gebiet um den Unfallort mit ihrer feinen Nase abgesucht hat. «Nichts gefunden », sagt Merz. «Wir gehen davon aus, dass das Tier inzwischen das Weite gesucht hat.» Merz trägt Schirmmütze, Wanderschuhe, Flanellhemd und eine schwarz-grüne Arbeitshose. Der imposante Bart verleiht dem 37-Jährigen eine bodenständige, urchige Note und lässt ihn etwas älter aussehen, als er tatsächlich ist. Legen wir zuerst mit dem Interview los, bevor wir gemeinsam ein durch Roman Merz betreutes Revier aufsuchen: ein Stück Privatwald im Sijentalwald zwischen Buonas und Rotkreuz.

 

Aufgewachsen auf einem von Wald umgebenen Bauernhof im Unterägerer Hürital ging Merz schon immer gerne «ins Holz». Wald, Tiere, die Natur ganz allgemein – das hat ihn von Kindsbeinen an fasziniert. Sein Vater bewirtschaftete den Bauernhof, die Mutter führt bis heute die bekannte Alpwirtschaft Ochsenfeissi. Bereits mit vier Jahren liess der kleine Roman seine Eltern wissen: «Ich will Förster werden.» Nach einer Lehre als Forstwart, der Ausbildung zum Förster und mehreren Jahren als Betriebsleiter bei der Korporation Unterägeri hat Roman Merz im September 2022 eine neue berufliche Herausforderung als Revierförster im AFW angenommen. Die Hälfte seines Vollzeitpensums widmet Merz dem Thema Erholungswald und Besucherlenkung – also der Herausforderung, wie die vielen verschiedenen Nutzergruppen, die den Wald für ihre Freizeit  aufsuchen, aufgeklärt, sensibilisiert und in geordnete Bahnen geführt werden können,  sodass ein konfliktfreies Miteinander von  Mensch und Tier im Lebensraum Wald  möglich ist. «Fachmann Erholungsnutzung » heisst die offizielle, etwas technokratische  Bezeichnung für diesen Job.

 

Vor allem jetzt, im Sommer, wo der Wald  noch stärker frequentiert wird, wo Wanderer,  Jogger, Velofahrer, Reiter – kurz: Freizeitsportler aller Art – unterwegs sind, wo  Beeren gepflückt und Drohnen entsandt  werden, grilliert und gezeltet wird, Familien und Schulklassen zum Picknick aufbrechen,  wird diese Arbeit immer wichtiger und  braucht es entsprechend Prävention und  Massnahmen. Es sei toll, betont Merz, dass  so viele Leute den Wald mögen, er gehöre  schliesslich auch dazu. «Aber bei manchen fehlt das Bewusstsein, dass hier auch Tiere  leben, die Ruhe brauchen; das Bewusstsein,  dass der Wald keine rechtsfreie Zone, sondern  ein sensibles Ökosystem darstellt und immer jemandem gehört: den  Korporationen, dem Kanton, den Gemeinden oder Privaten.»

 

Mit dem seit 1907 im Schweizerischen Zivilgesetzbuch  verankerten Recht, den Wald  frei betreten zu dürfen, sei auch eine Verpflichtung  verbunden, betont Merz: «Dem Wald als Lebensraum Sorge zu tragen und ihm mit dem gebotenen Respekt zu begegnen.» Dazu zählt, dass man Absperrungen  beachtet und Fahrverbote ernst nimmt,  dass man nicht jeden noch so abgelegenen  Forstweg befährt, nur weil es mit dem batteriebetriebenen  Mountainbike so gut geht.

 

Angesagt sind im Kanton Zug die stärkere Präsenz von Aufsichtspersonen in gut frequentierten  Waldstücken, eine bessere Signalisation vor Ort und mehr digitale Information,  allem voran eine App, wo Waldbesucher alles finden, was sie an Infrastruktur  suchen: Wander- und Velowege,  Grillplätze, Aussichtspunkte, Vita-Parcours,  Waldspielplätze, Waldhütten usw. usf. Vermehrt  sollen Aufsichten mit den Leuten das Gespräch suchen und Unbelehrbare nötigenfalls  sanktionieren. Der Kantonsrat  heisst die Massnahmen gut, hat im vergangenen März ein Postulat teilerheblich erklärt  und die finanziellen Mittel für dessen  Umsetzung gesprochen. Dass Handlungsbedarf  besteht, ist schon lange klar, doch  aufgeschreckt hatte vor kurzem ein besonders  krasser Fall: Da trafen sich Motorradfahrer  für eine Spritztour im Naturschutzgebiet Gutschwald in Oberägeri.

 

Merz erklärt den – vor allem durch Corona  ausgelösten – Waldboom wie folgt: «Alle wollen fit und gesund sein, sich nach Stunden am PC oder hektischen Terminen in einer  vollen Agenda im Wald erholen. Dies darf aber nicht auf Kosten von Flora und  Fauna geschehen.» Apropos frische Luft: Wollten wir nicht noch in den Sijentalwald, wo Roman Merz eine grössere  Parzelle Privatwald betreut? Hündin Pakuna  hätte bestimmt nichts gegen einen Ausflug ins Gehölz. Sie hüpft schon aus ihrem  Körbchen, das neben dem Schreibtisch von Roman Merz steht, und wedelt mit dem Schwanz. So packen wir also unsere sieben  Sachen, steigen in den AFW-Pick-up und  fahren Richtung Rotzkreuz.

 

Bei einer kleinen Einfahrt parkiert Merz den Wagen, lässt Pakuna aus dem  Auto und nimmt sie sofort an die Leine. Beim Wald handelt es sich um einen sogenannten  Mischwald. Bergahorn, Buchen  und Birken findet man hier ebenso wie Fichten. Logisch! Der Platzhirsch unter den  Bäumen im Zuger Wald – mit einem Anteil  von 40 Prozent – wurde schweizweit und  jahrzehntelang gezielt aufgeforstet, weil die  Holzwirtschaft dies so wollte. Der Vorteil  der Fichte: Ihr Holz kann man relativ früh ernten. Laubholz hingegen braucht länger, bis es erntereif ist, und wirft somit erst später einen Ertrag ab. Mittlerweile hat aber ein Umdenken stattgefunden, und man ist  sich einig, dass künstliche Monokulturen  nicht sehr nachhaltig sind. Zudem, so Merz,  sei die Fichte, da flachwurzlig, ziemlich  sturmanfällig. «Ein weiteres Problem besteht darin, dass Fichtennadeln sauer sind  und den Oberboden des Waldes, also jene Bodenschicht, wo Würmer aktiv sein sollen, versauern. Da wuchern dann die Brombeeren », erklärt der Fachmann und zeigt auf  eine Fläche mit Fichten, wo unzählige stachelige Äste wuchern. Ein veritabler Brombeerdeckel  hat sich da im Unterholz gebildet.  Er hemmt die natürliche Verjüngung.

 

Beliebt wegen seines Vita-Parcours und des Waldlehrpfades der Korporation, kennt  man den Sijentalwald aber noch aus einem  anderen Grund. 2021 wütete im Ennetseegebiet  ein Unwetter, das auch den Baumbestand  im Sijentalwald arg in Mitleidenschaft  zog und unzählige Bäume schädigte. Viel  Holzschlag gibt es darum hier in nächster Zeit nicht zu tätigen. In Teilgebieten kann es  gar Jahrzehnte dauern, bis wieder Holz genutzt  werden kann. Unabhängig davon gilt  im Wald das Nachhaltigkeitsprinzip. Das  heisst: Es darf nicht mehr Holz genutzt werden,  als nachwächst. Ebenso beachtet werden  muss: Im Schweizer Wald darf kein  Baum gefällt oder entnommen werden,  ohne dass er vorgängig nicht entsprechend von einem Revierförster mit Farbe oder Beil  gekennzeichnet wurde. Und tatsächlich stehen wir jetzt gerade an einem solchen  Baum, einer stattlichen Esche, deren zähes und biegsames Holz so geschätzt wird.

 

An deren Stamm sticht eine fette pinkfarbige  Markierung ins Auge. Diese wurde allerdings  wiederum mit einem grossen blauen  Punkt übermalt. Der Revierförster klärt auf:  «Der blaue Punkt bedeutet, dass der private  Waldbesitzer nicht möchte, dass dieser  Baum gefällt wird. Das kann legitime Gründe  haben.» Merz begutachtet die Esche und stellt fest, dass sie vom sogenannten  Eschensterben betroffen ist, sich also ein  aggressiver Pilz an ihr zu schaffen gemacht  hat. Das bedeute aber nicht, dass die Esche  nichts mehr wert sei. «Auch ein kranker  oder toter Baum kann ein wichtiger Lebensraum  für Insekten, Vögel oder Eichhörnchen  sein. Er kann einen so hohen ökologischen Wert haben, sodass man ihn – wenn er nicht instabil ist und keine Gefahr von  ihm ausgeht – durchaus stehen lassen  kann», so Merz. Der Baum bildet dann innerhalb  des Waldes einen eigenen kleinen Lebensraum. Aber eben: Die Sicherheit von Passanten muss entlang offizieller Infrastruktur  gewährleistet sein. Wer möchte schon beim Joggen oder Grillieren von einem Baum erschlagen werden?

 

Faszinierend, was es alles zu lernen gibt! Bedauernswert, dass  man als Laie so vieles gar nicht wahrnimmt.  Im Gegensatz zum Profi. Im Gegensatz zu  Förster Merz. Der schaut gerade schweigend  gegen den Himmel und hält inne:  «Hoch über einer Fichte dreht schon seit  längerem ein Rotmilan seine Runden, bleibt  aber immer mehr oder weniger in Nähe der  Baumkrone. Vielleicht hat er hier ein Nest mit Jungen und sucht nach Nahrung.» Und  was ist mit der dürren Fichte nebenan los? «Sieht so aus, als wäre die mal vom Buchdrucker  – einem Fichtenborkenkäfer – befallen  gewesen. Trotzdem hat auch dieser tote Baum eine Daseinsberechtigung», so  Merz. «Der Stamm ist vollgepickt mit Löchern,  die mit Sicherheit von einem Specht  stammen, der sich im Innern seine Nahrung  sucht.» Wir wissen jetzt: Totholz hat eine wichtige Funktion im Wald, und es muss  nicht zwingend eliminiert werden, sofern  der restliche Bestand nicht gefährdet ist.  Ganz abgesehen davon, dass es finanziell  unverhältnismässig wäre, wegen ein, zwei  Bäumen die grossen Forstfahrzeuge in den Wald zu karren. Einen Holzschlag plant man lange im Voraus, und er wird erst getätigt, wenn es mehrere Bäume gleichzeitig zu fällen gibt.

 

Jetzt wollen wir vom Profi aber endlich wissen,  wie man eine Rottanne (im Forst spricht man von Fichte) von einer Weisstanne  (im Forst spricht man von Tanne) unterscheidet.  Roman Merz zwickt ein Ästchen einer Weisstanne ab und dreht es um. Eine  weissliche Fläche kommt zum Vorschein.  «Noch Fragen?» Und woran erkennt man die  Fichte? Roman Merz hält Ausschau, marschiert  auf ein kleines Bäumchen zu und  zwickt ebenfalls ein Ästchen ab. «Fichtennadeln sind viel feiner und spitziger und  rund um den Ast angeordnet.» Prüfend begutachtet  Merz sodann die Knospen einer  Gruppe junger Nadelhölzer und vergewissert  sich, ob das Wild sich nicht daran zu  schaffen gemacht hat. «Sieht gut aus»,  meint er zufrieden. «Kaum Verbiss. Ein Zeichen,  dass der Wildtierbestand intakt ist.»

 

Auch sonst ist Revierförster Merz voll des  Lobes für den Wald. «Mein Vorgänger hat  professionelle Arbeit geleistet. Das sieht man sofort.» Der Wald sei überdies stufig,  will heissen, man findet verschiedene Altersstufen  auf einer Fläche. Und da und  dort zeigt sich schöner Unterwuchs:  Sträucher und Stauden wie der wollige Schneeball oder die Heckenkirsche. Wertvoll  sind auch sogenannte Lichtkegel, damit es für die jungen Bäume nicht zu schattig wird und ihre Triebe wachsen. Dazwischen  darf es durchaus wieder etwas «Starkholz» sein, also Bäume mit mindestens  50 Zentimetern Durchmesser. Nach einer Weile stossen wir auf eine Fläche, in  der zahlreiche Holzstöcke stecken, die wiederum mit einem Plastik umrollt sind. «Hier wütete eindeutig der Sturm, und man  hat offensichtlich wieder junge Bäumchen  angepflanzt, vor allem Ahorn und Eiche. In  zwanzig Jahren wird das bei genügend Wasser, Licht und Nährstoffen ein sensationeller  Wald», freut sich Merz.

 

Langsam neigt sich unser Spaziergang dem Ende zu, obwohl es vom Revierförster noch viel zu erfahren gäbe, zumal er sichtlich Freude bekundet, seine Leidenschaft  für den Wald mit einer Journalistin  zu teilen. Kein Wunder, dass der junge  Familienvater auch mit seiner Frau und den beiden Kindern oft im Wald unterwegs ist. Der dreijährige  Toni läuft schon jetzt wie ein Experte mit dem Feldstecher durch den Wald und hält nach Füchsen, Hasen, Vögeln Ausschau.  Die einjährige Seline freut sich vorerst einfach darüber, wenn sie durchs Laub  rennen und die vielen Blätter vom Boden  aufwirbeln kann.

 

Roman Merz bedauert es, dass viele Waldbesucher vor allem auf Action und Sport aus sind, auch im Wald das Telefonieren  nicht bleiben lassen können und zur musikalischen  Unterhaltung sogar noch die «in ear»-Kopfhörer im Ohr stecken lassen.  Mehr profitieren vom Aufenthalt im Wald  würde man, wenn man den natürlichen Soundtrack des Waldes auf sich wirken liesse,  wenn man lauschen und innehalten  würde. «Man kann so viel entdecken oder eben auch verpassen.» Vor allem in  der Dämmerung passiere im Wald einiges.  Gerade neulich war Merz am späteren  Nachmittag im Sijentalwald unterwegs. Nur wenige Meter vom Waldrand entfernt erblickte  er auf einem Baumstrunk ein junges  Füchslein.  

 

ENDE LAUFTEXT

 

Der Wald – die perfekte Klimaanlage

 

Warum herrscht auch an heissen Sommertagen  im Wald ein so angenehmes  Klima? Erstens sorgt das schattenspendende  Dach des Waldes dafür, dass  einem die Sonne nicht direkt auf den  Kopf brennt. Zweitens liegt an manchen  Tagen die Temperatur in Waldgebieten bis zu 6 Grad tiefer als in  Wohngegenden. Über ihre Spaltöffnungen  schwitzen die Blätter und Nadeln  der Bäume das aus dem Waldboden  aufgenommene Wasser wieder aus –  was zusätzlich einen kühlenden Effekt  hat. Ein Hektar Wald mit durchschnittlichem  Baumbestand kann an warmen Tagen bis zu 60 000 Liter Wasser verdampfen  und seine Umgebung auf natürliche Weise kühlen.  Nicht nur der Waldbesucher profitiert  von diesem Effekt, auch die Umwelt:  Über den Wipfeln der Bäume ist es kühler als über bebautem Land. Forscher haben herausgefunden, dass auch Grasland  eine kühlende Wirkung hat. Aber  der Wald mit seinen tief verwurzelten  Bäumen ist bei längeren Hitzeperioden als Klimaregu-lator noch besser – und  somit die beste Klima