PUBLIKATION

Magazin Andante

ZUSAMMENARBEIT

Fotos (Severin Jakob)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.5.2023

«PIONIERHAFT, EINZIGARTIG, UNVERZICHTBAR»

 

Das Tageszentrum der Stiftung Andante in Winterthur bietet Menschen, die unerwartet mit einer Hirnverletzung konfrontiert sind, eine vielseitige Tagesstruktur mit Atelierplätzen – das Angebot wird rege genutzt!

 

Menschen, die eine Hirnverletzung aufgrund eines Unfalls, eines Tumors, einer Durchblutungsstörung oder einer Hirnblutung erleiden, haben andere Bedürfnisse als Menschen, die mit einer kognitiven Beeinträchtigung geboren sind. Für erstere verändert sich das Leben abrupt, mitunter von einem Tag auf den anderen, und sie brauchen Angebote, die spezifisch auf ihre neue Situation ausgerichtet ist. Nötig ist dies vor allem, wenn sich zeigt, dass trotz Rehabilitationsanstrengungen eine Rückkehr ins «alte» Leben – insbesondere in den Berufsalltag – nicht mehr möglich ist. Hirnverletzung ist also nicht gleich Hirnverletzung. Die Stiftung andante ist sich dessen bewusst und entsprechend aufgestellt.

 

Einquartiert in einem lebendigen Genossenschaftsquartier an der Ida-Sträuli-Strasse in Winterthur, ist das Tageszentrum nicht mehr aus dem Leistungskatalog der Stiftung andante wegzudenken. Und vor allem möchten die Nutzenden nicht darauf verzichten. Denn es ist in dieser Form im Kanton Zürich einzigartig. Bis zu dessen Eröffnung am 11. März 2013 standen Betroffenen mangels Alternativen nur Beschäftigungsangebote in herkömmlichen Behinderteneinrichtungen zur Verfügung, was ihrer Situation definitiv nicht gerecht wurde. Eine veritable Lücke klaffte. Eine Lücke, die dank dem Einsatz der Stiftung andante und dem Engagement einer Initiativgruppe um den langjährigen Winterthurer Hausarzt Dr. Felix Frei geschlossen wurde.

 

Frei, leidenschaftlicher Sportler und Mediziner, erlitt im Jahre 2007 selbst eine Hirnverletzung. Nach einem ereignisreichen Ausflug in die Berge stürzte er mit den Skiern auf den Schultern bei der Talstation auf einer Treppe. Dabei schlug er mit dem Hals so unglücklich auf der Kante auf, dass die Hauptschlagader verletzte wurde und eine Thrombose die Blutzufuhr zur rechten Hirnhälfte unterbrach. Hausarzt Frei ahnte in diesem Moment nicht, welch folgenschwerer Unfall sich gerade ereignete. Erst als ein Neurologe im Berner Inselspital Klartext mit ihm sprach, wurde ihm das Ausmass des Fehltritts bewusst, wurde ihm klar, dass die Rehabilitation ein langer Weg sein wird und kognitive Beeinträchtigungen – etwa bezüglich Bewegung, Ausdrucks- und Konzentrationsfähigkeit – für immer bleiben werden. Ob als Mediziner, Ehemann oder Vater: Felix Frei konnte fortan nicht mehr wie gewohnt «performen» – eine heftige Veränderung, eine bittere Einsicht für einen Mann, der stets voll Tatendrang war.

 

Wie für Frei fehlten auch für andere Betroffene damals geeignete Angebote. Aus diesem Mangel heraus und auch aufgrund von wiederholten Forderungen seitens Kliniken, Verbänden, Ärzteschaft und ambulanten Stellen startete andante schliesslich eine entsprechende Bedarfsabklärung und wurde aufgrund der Resultate vom Sozialamt des Kantons Zürich offiziell mit der Schaffung eines Tageszentrums beauftragt, das sich seither erfolgreich auf dem Markt behauptet.

 

Das heutige Angebot bietet für 30 Personen in fünf Ateliers Tätigkeiten in den Bereichen Holz, Ton, Textil, Naturmaterialien, Malen, Druck und Glas an. Ohne Leistungsdruck gehen Klientinnen und Klienten Interessen nach, können Fähigkeiten trainieren und neue erwerben. Am Morgen startet man jeweils mit den beliebten Akademieangeboten, wo Musizieren und Singen, Gedächtnistraining, Achtsamkeit und persönliche Themen wie Gespräche über die eigene Biografie auf dem Programm stehen. Weil die Gruppen relativ klein sind, kann das Personal das Setting in Absprache mit Betroffenen, Angehörigen oder therapeutischen Fachkräften laufend den Bedürfnissen der Besucherinnen und Besucher anpassen. Zeit und Raum für einen solchen Austausch, aber auch einen ungezwungenen Schwatz bei einer Tasse Kaffee oder Tee gibt es im Tageszentrum immer.

 

Die Erfahrung zeigt: Das Tageszentrum ist für viele Klienten – vor allem wenn sie das erste Mal da sind – wie ein Rettungsanker. Hier werden sie verstanden und ernst genommen, treffen auf Menschen, die mit einem ähnlichen Schicksal kämpfen, aber nicht aufgeben wollen und alles daransetzen, wieder neuen Lebensmut zu schöpfen. Gemeinsam blickt man nach vorne, nutzt vorhandene Ressourcen, motiviert sich und gibt sich Tipps in allen möglichen Lebensbereichen. Von grosser Bedeutung ist das Tageszentrum auch für Angehörige. Sie werden entlastet und stossen mit Fragen, Sorgen oder Problemen beim engagierten Fachteam ebenfalls auf ein offenes Ohr.


Nach der erfolgreichen Implementierung des Tageszentrums im Jahre 2013 kam 2020 ein weiteres Angebot für Menschen mit einer Hirnverletzung hinzu: das Wohnheim Tägelmoos in der gleichnamigen Siedlung, ebenfalls in Winterthur. Es bildet nun seit gut zwei Jahren zusammen mit dem Tageszentrum das «Kompetenzzentrum für Menschen mit Hirnverletzung Zürich-Winterthur». Zur Verfügung stehen im Tägelmoos 15 Plätze für Menschen, die aufgrund einer Hirnverletzung nicht mehr allein oder im bisherigen Umfeld wohnen können und partiell auf Unterstützung angewiesen sind. Im Fokus steht das Erlernen bzw. Wiedererlangen alltäglicher Fähigkeiten, welche die Autonomie und Selbstständigkeit der Betroffenen erhöhen.

 

Weil Tageszentrum und Wohnheim beide unter dem Dach von andante vereint sind, findet eine enge Zusammenarbeit statt. Betroffene können – sofern es Platz hat und die Aufnahmekriterien erfüllt sind – von beiden Angeboten profitieren