PUBLIKATION

Magazin Andante

ZUSAMMENARBEIT

Severin Jakob (Foto)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.5.2023

GIAN - BOTSCHAFTER FüR HERZLICHKEIT

 

Angefangen hat alles mit einem unverbindlichen Praktikum. Heute arbeitet Andante-Klient Gian Kälin (29) als Hilfskraft im Team von Marcel Wüthrich (38) bei der Herzog Küchen AG im Thurgau. Ein Gespräch über Integration, Wertschätzung und Herzlichkeit

 

Wie kam die Zusammenarbeit zwischen Gian und Ihrem Arbeitgeber, der Firma Herzog Küchen,
zustande?


Marcel Wüthrich: Andante meldete sich vor ein paar Jahren bei uns und erkundigte sich, ob es eine Möglichkeit gebe, Gian zu beschäftigen. Wir überlegten, welche Arbeit infrage kommen könnte, und boten ihm ein Praktikum in der Produktion an: am Dübel-Automaten.


Welche Arbeit wird da ausgeführt?


Gian Kälin: Am Dübel-Automaten muss man Bretter auf die Maschine legen. Dann werden Löcher
gebohrt und Dübel reingestanzt. Mir hat die Arbeit von Anfang an gefallen und ich mache sie
auch jetzt noch gerne.


Das heisst, Gian konnte nach dem Praktikum weiterarbeiten?


Marcel Wüthrich: Ja, er war hoch motiviert und wir hatten den Eindruck, dass wir ihn sinnvoll beschäftigen können. Daraus entwickelte sich ab 2011 eine Festanstellung im 40-Prozent-Pensum, die bis heute erfolgreich weiterläuft.

 

Was arbeitest du aktuell?


Gian Kälin: Ich fräse an einer Maschine Nuten in Schubladenböden. Die braucht es, damit die Stahlzargen befestigt werden können. Wenn die Böden genutet sind, staple ich sie auf ein Palett. Pro Morgen schaffe ich knapp hundert Bretter.


Machst du immer die gleiche Arbeit?


Gian Kälin: Ja. Wenn es aber an der Dübel- und an der Nut-Maschine nichts zu tun gibt, helfe ich
in der Entsorgung mit. Ich zerstückle an einer Maschine das Styropor des Verpackungsmaterials.
Zwischendurch leere ich die Papierkörbe in den Büros.


Ihre Firma gibt Gian eine Chance. Ist seine Präsenz auch ein Gewinn für den Betrieb?


Marcel Wüthrich: Absolut. Wir alle sind der Meinung, dass behinderte Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden sollten. Wir haben nebst Gian noch eine weitere Person mit Beeinträchtigung, die bei uns stundenweise beschäftigt ist. Auch arbeiten hier einige Mitarbeitende, die weder ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis noch ein Berufsattest haben. Diese Hilfskräfte betreuen wir spezifisch, damit sie trotz fehlender Ausbildung wissen, welche Sicherheitsvorschriften hier gelten. So können sie sich dann «on the Job» qualifizieren und erhalten innerhalb der Firma eine Perspektive.


Wie hat die Belegschaft auf Gian reagiert?


Marcel Wüthrich: Positiv. Gian wurde schnell selbstständig. Wenn er doch einmal Unterstützung braucht, helfen ihm die Kollegen gerne. Er kann auch jederzeit zu mir ins Büro kommen. Das Gute ist: Gians Tätigkeit ist sehr autonom. Wenn er an einer Station mal etwas langsamer ist, hat das keine Auswirkungen auf andere Produktionsschritte.


Gian, fühlst du dich im Team gut integriert?


Gian Kälin: Ich gehöre voll dazu. Ich arbeite gerne und man nimmt mich so, wie ich bin. Ich bin froh, dass ich immer hier in der Produktion sein kann. Zu den Kunden möchte ich nicht gehen.

 

Musst du morgens früh raus?


Gian Kälin: Um sieben Uhr ist Arbeitsbeginn.


Das ist früh.


Marcel Wüthrich: Na ja, ich fange schon um sechs Uhr an!

 

(Gian lacht schallend.)

 

Wie sieht deine Arbeitswoche aus?


Gian Kälin: Ich arbeite Montag bis Donnerstag immer bis Mittag. Danach fahre ich mit dem Postauto nach Steckborn in meine Wohngemeinschaft.  Am Nachmittag arbeite ich in Steckborn in der Schreinerei von Andante. Am Freitag habe ich frei. Dann muss ich mich um die Wäsche in der WG kümmern, das Badezimmer putzen und den Kompost leeren.


Wo gefällt es dir besser, in der Schreinerei in Unterhörstetten oder in Steckborn?

 

Gian Kälin: Das kann ich nicht sagen. Beides ist super. Darum schaue ich immer, dass ich nicht krank werde. Corona war doof. Da konnte ich ein paar Monate lang nicht arbeiten.


«Schweizer Küchen mit Herz» lautet das Motto Ihrer Firma. Mehr als nur ein Slogan?


Marcel Wüthrich: Herzlichkeit wird hier gelebt. Bei uns zählen nicht nur Gewinn und Umsatz.


Dann ist Gian eine Art Botschafter dieser Philosophie?


Marcel Wüthrich: Genau! Er erzählt in seinem Umfeld von seiner Arbeit bei uns. Das hat einen positiven Effekt. Wenn Leute hören, dass wir uns sozial engagieren, kann das durchaus ein Argument sein, weshalb sich ein Kunde für unsere Firma und unsere Produkte interessiert.

 

Verdient Gian einen Lohn?


Marcel Wüthrich: Ja, er hat einen leicht reduzierten Stundenlohn. Selbstverständlich hat er auch Anspruch auf Ferien, wie andere Mitarbeiter auch.


Wie sieht es aus mit Firmenfesten und Betriebsausflügen?


Gian Kälin: Da bin ich mit dabei. Erst kürzlich waren wir auf einer Schifffahrt. Zuerst regnete es,
aber dann kam die Sonne.


Marcel Wüthrich: Auch beim Abteilungsausflug mit dem Produktionsteam ist Gian dabei. Dieses
Jahr fahren wir nach Innsbruck und besuchen einen Lacklieferanten sowie die Skisprungschanze. Auch eine Führung bei Swarovski ist geplant.


Gian Kälin: Kann ich da auch mitkommen?


Marcel Wüthrich: Logisch, du hast dich schon angemeldet. Das ist sogar mit Übernachtung. Und bald steht auch schon wieder der Grillplausch auf dem Programm.


Hast Du noch Zeit für Hobbys, Gian?


Gian Kälin: Ja. Am Mittwoch gehe ich turnen, am Donnerstag spiele ich Fussball. Am Abend mache ich gerne einen Spaziergang. Ab und zu gehe ich nach Winterthur ins «Salzhaus», wenn Disco für Behinderte und Nichtbehinderte ist. Die Musik von DJ Bobo gefällt mir besonders gut! Und an der Bar trinke ich am liebsten eine Cola.

 

Viele Firmen sind skeptisch, wenn es um die Integration von Menschen mit Beeinträchtigung im eigenen Betrieb geht.


Marcel Wüthrich: Es eignen sich nicht alle Branchen gleich gut. Aber wenn eine Firma herausfinden möchte, ob es funktioniert, macht es Sinn, mit einem unverbindlichen Praktikum zu starten. Dann sehen beide Seiten, ob eine regelmässige Beschäftigung infrage kommt und ob der Aufwand nicht zu gross ist. Ich kann nur sagen, Gian ist sehr unkompliziert und er fällt niemandem zur Last. Im Gegenteil: Wir freuen uns, dass er da ist und seinen Beitrag für die Firma leistet.

 

ENDE LAUFTEXT

 

Die Firma HERZOG Küchen, 1912 gegründet, ist ein bekanntes Familienunternehmen, das in der vierten Generation geführt wird. Der Küchenhersteller beschäftigt rund 250 Mitarbeitende. Der Hauptsitz inklusive Produktion befindet sich in Unterhörstetten (TG). Weitere Verkaufsstandorte sind Schlieren, Gossau und Rapperswil.