PUBLIKATION

Buch «Die Welt entdecken»

ZUSAMMENARBEIT

Benni Weiss (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

30.5.2021

LEBHAFT, LAUT UND LEIDENSCHAFTLICH

 

In der Freizeitbetreuung im Zugerischen Oberwil können Schulkinder fernab von Leistungs- und Erwartungsdruck ihren Eigeninteressen nachgehen und bei wichtigen Entscheiden mitreden. Das funktioniert in aussergewöhnlichen Zeiten auch mit Desinfektionsmittel und Sicherheitsabstand.

 

Wie still und aufgeräumt es in der Freizeitbetreuung ist. Aber kein Wunder – es hält sich ausser Eva Hagedorn, Leiterin des Betriebs, derzeit auch kein Mensch hier auf. Gerne hätte die Schreibende die familien- und schulergänzende Institution während den offiziellen Öffnungszeiten besucht, wenn hier «Action» herrscht. Aber der Kontakt zu externen Personen ist wegen COVID 19 massiv eingeschränkt. Die Pandemie zwingt uns zu einem tête-à-tête, zu einem Interview mit Mund- und Nasenschutz.

 

Eva Hagedorn, 39 Jahre alt, macht – das lässt sich hinter dem weiss-blauen Vlies unschwer erkennen – ein freundliches Gesicht und nutzt die Gelegenheit, um ungestört über ihre Arbeit zu berichten. Die speziellen Rahmenbedingungen, die einzuhaltenden Abstandsregeln, das Hantieren mit Desinfektionsmittel und Seife, der Verzicht aufs Händeschütteln, trägt die gebürtige Deutsche mit Fassung und findet, dass auch die Kinder bestens mitmachen. «Kinder können gut mit solchen Veränderungen umgehen. Man muss ihnen nur erklären, warum die vielleicht etwas gewöhnungsbedürftigen Verhaltensregeln wichtig sind.» Für alle Nichtortskundigen: Die Freizeitbetreuung (FB) Oberwil ist das, was andere Kantone Hort nennen, der Ort also, wo Kindergarten- und Primarschulkinder familienergänzend betreut werden. In Oberwil stehen zwei Zeitfenster zur Verfügung: ein erstes von 12 Uhr bis 14 für Mittagessen, ein zweites für den Nachmittag zwischen 14 und 18 Uhr. Die Plätze sind begehrt: 72 Kinder nutzen das Angebot über Mittag, 54 Kinder sind es am Nachmittag.

 

Aus dem Team absolvieren derzeit zwei Mitarbeitende die tertiäre Ausbildung bei der hfk von CURAVIVA. «Ein Glücksfall» sei dies, so Eva Hagedorn. Die Auseinandersetzung mit pädagogischen und erzieherischen Fragen finde an der hfk auf hohem Niveau statt. «Und davon profitieren auch wir als Ausbildungsbetrieb. Von der Schule erteilte Aufträge werden hier in die Praxis umgesetzt. Neue Ideen finden den Weg zu uns.» Den Umgang mit Kindern reflektieren, Bewährtes hinterfragen, neue pädagogische Wege ausprobieren, Themen der Betreuung vertiefen – da leiste die hfk einen wichtigen Beitrag. Sie selbst verspürte schon in jungen Jahren den Wunsch, sich beruflich mit der Entwicklung von Kindern auseinanderzusetzen, erlernte den Beruf der Erzieherin und studierte anschliessend Sozialpädagogik. Einen Hort leitete Eva Hagedorn bereits in Deutschland, bis sie ihrem Mann, der berufsbedingt in die Schweiz kam, in den Kanton Zug folgte. Die Stelle als Leiterin der FB, für die sie sich vor acht Jahren bewarb, kam wie gerufen. «Das Arbeiten mit Kindern ist meine Leidenschaft», hält sie, selbst Mutter einer sechsjährigen Tochter, nochmals unmissverständlich fest.


Die FB Oberwil – sie ist beim städtischen Bildungsdepartement angegliedert – verfügt über ein pädagogisches Konzept und dazugehörige Standards. Und immer wieder setzt sich das Team mit der Frage auseinander, was denn bei der Begleitung der Kinder in ihrer Freizeit und im Alltag wichtig ist. Partizipation und Selbstwirksamkeit spielen eine zentrale Rolle. «Das eine ist ohne das andere nicht zu haben», ist Hagedorn überzeugt. «Ein Kind mit hoher Selbstwirksamkeit ist zuversichtlich und hat die Überzeugung, dass ihm etwas gelingt, es etwas schaffen kann, wenn es sich etwas vornimmt. Da sich diese Fähigkeit am besten aufgrund von Erfahrung ausbildet, ist es wichtig, dass es immer wieder zu solchen Erlebnissen kommt.» Hier in der FB ist dies besonders gut möglich, weil – anders als oftmals in der Schule – kein Druck herrscht und Verhalten und Leistung nicht mit Noten bewertet werden. «Bei uns basiert vieles auf Freiwilligkeit, dürfen die Kinder ihren Eigeninteressen nachgehen, etwas ausprobieren, auch mal einen schlechten Tag haben.» Eigentlich gehe es darum, die Kinder in ihrem Handeln zu bestärken, ihnen etwas zuzutrauen. Ein Beispiel gefällig?


Auf Initiative einer hfk-Absolventin wurde in der FB ein Kinderrat initiiert. Dieser wirkt, so steht es an der Pinwand, an wichtigen Entscheidungen in der FB mit, nimmt auf die Gestaltung des Alltags oder bestimmter Höhepunkte im Jahr Einfluss. Die Kinder bringen ihre Themen in die Sitzung ein, diskutieren diese, besprechen sie mit der Leitung und arbeiten bei der Umsetzung neuer Ideen mit. Traktandenliste, Sitzungen, Protokoll und Budget – im Kinderrat geht es zu und her wie im «richtigen» Leben, strukturiert und trotzdem unverkrampft. Als der Wunsch aufkam, neue Fussballbälle und -handschuhe zu beschaffen, machte sich der Kinderrat schlau, erstellte ein Budget, erhielt das nötige Geld und begab sich auf den Weg in die Sportgeschäfte der Kantonshauptstadt. «Sie hatten einen wichtigen Auftrag», schmunzelt Eva Hagedorn, «waren partizipativ und erlebten Selbstwirksamkeit.» Der Briefkasten, der gleich neben der Pinwand hängt, ist ein anderes Instrument für Mitbestimmung: hier landen unter anderem regelmässig Menüvorschläge fürs Küchenteam – allerdings nicht nur Klassiker wie Fischstäbchen und Pommes Frites. Nachdem die Kinder im Garten violette Kartoffeln angepflanzt und daraus Kartoffelstock gemacht haben, wollten sie diese farblich spezielle Speise unbedingt wieder einmal geniessen.


Zum Schluss bricht Eva Hagedorn auf zum Rundgang durch den modernen, hellen, von Grosszügigkeit geprägten zweistöckigen Bau und führt zu den Bildungsinseln und anderen Räumen, wo es viel Platz hat – Platz zum Austoben, Hämmern, Sägen, Spielen, Essen, Basteln, Malen, Kleben, Lesen, Turnen, Chillen. Es ist seltsam, diese Räume so leer und ohne Kinder zu sehen. Aber bald ist ja Mittag, und 72 hungrige Buben und Mädchen strömen herbei. Bis dahin muss die Besucherin verschwunden sein und Eva Hagedorn taucht ein in eine lebhafte, wilde, manchmal auch etwas laute Welt. «Die Arbeit mit den Kindern bringt mir noch genauso viel Freude und Befriedigung wie am Anfang meiner Tätigkeit. Tolles Haus, tolle Umgebung, tolles Team, tolles Ambiente», schwärmt sie und zieht, als wir mit «Sicherheitsabstand» im Freien stehen, ihre Maske aus. Tatsächlich: Eva Hagedorn strahlt wieder.

 

Die Kinder, versichert sie, könnten ihre Mimik unter dem Mund- und Nasenschutz übrigens problemlos lesen. «Die kennen mich und sehen es meinen Augen an, ob ich ernst, besorgt oder fröhlich bin.»