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Berti Windlin (Fotos)

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Sabine Windlin

DATUM

25.12.2023

MEIN VATER, DER UNORTHODOXE SPITZENBEAMTE

 

Treuer Staatsdiener? Ja, das war mein Vater. Vor allem aber war Hans Windlin ein unbequemer kantonaler Angestellter, der sich lustvoll über Konventionen hinwegsetzte und sich den Luxus einer eigenen Meinung leistete. Auch sorgte er für das eine oder andere Skandälchen. Ein persönlicher Nachruf.

 

Manchmal muss man das Rad der Zeit gar nicht so weit zurückdrehen, um festzustellen, dass sich Erstaunliches ereignet hat. Im Sommer 1994 wurde im Regierungsgebäude am Schalter der Zuger Staatskanzlei eine junge Frau vorstellig, die im Amtsblatt einen Aufruf platzieren wollte: «Lesbische Frauen und schwule Männer gesucht.» Die Bürgerin war auf der Suche nach Gleichgesinnten, die ihr bei der Unterschriftensammlung für die Petition «Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare» helfen. Doch der Adjunkt der Staatskanzlei winkte ab. Der Inhalt des Inserats, liess er die Frau wissen, verstosse gegen «Sitte und Moral». Eine Publikation käme nicht infrage. Die Kundin reagierte enttäuscht. Mit einer ähnlichen Begründung wurde sie zuvor schon bei der Druckerei Speck AG abgewiesen. In der Hoffnung, ihrem Anliegen doch noch Gehör zu verschaffen, wandte sie sich an die «Zuger Nachrichten», welche die Story dankbar aufgriff. «Affront gegen Lesben – Homosexuelle im Amtsblatt unerwünscht», lautete die Schlagzeile in der Ausgabe vom 1. September 1994.

 

Die Geschichte ist nicht nur bemerkenswert, weil sie dokumentiert, mit welch fadenscheinigen «Argumenten» sich ein Anliegen von Schwulen und Lesben im Kanton Zug noch vor gar nicht langer Zeit vom Tisch fegen liess. Der weitere Verlauf dieser Geschichte illustriert auch, wie mein Vater in seiner Amtszeit als Landschreiber (1977–1998) und somit als Chef der Staatskanzlei immer wieder pointiert Stellung bezog. Konfrontiert mit der Schlagzeile, meldete er sich sofort bei der Zeitung und stellte in einem Interview klar: Der Aufruf und das damit verbundene Anliegen seien nicht nur juristisch völlig unproblematisch, sondern aus demokratischer Sicht absolut legitim. Gleichzeitig entschuldigte er sich für die «Fehlleistung» seines Mitarbeiters. «Der Publikation des Inserats steht seitens der Staatskanzlei nichts entgegen», liess er die Lokalzeitung wissen. «Wenn die Frau morgen zu mir kommt, erhält sie positiven Bescheid.»


Mit dieser Aussage war die Angelegenheit allerdings nicht gegessen. Im Gegenteil: Der «Lesbenskandal» gewann erst recht an Fahrt. Was dem Landschreiber einfalle, einen rechtschaffenen kantonalen Mitarbeiter öffentlich «in die Pfanne zu hauen»?, empörte sich etwa der damalige Chamer Gemeindepräsident in einem Brief an den Präsidenten des kantonalen Beamtenverbands. Mein Vater schade dem «Image der Beamten». Auch die Leserbriefspalten füllten sich. Unter dem Titel «Danke, Franz Fallegger» (so hiess der Adjunkt) drückte Joachim Eder, damals Kantons-, später Regierungsrat, sein Befremden aus, wie der Landschreiber einen gewissenhaften Mitarbeiter «öffentlich disziplinierte», statt den Fall intern zu «bereinigen». Der Adjunkt habe doch nur Gefühle gezeigt.


Der Baarer CVP-ler Leo Langenegger wiederum kündigte erbost sein Zeitungsabo. Mit der «Lesbenstory», so die Begründung – die er meinem Vater in Kopie zustellte –, habe man einen verdienten Beamten kurz vor seiner Pensionierung «in den Regen» gestellt. Kurz und gut: Nicht über die Ablehnung des Inserats echauffierte man sich, sondern über die klare Stellungnahme meines Vaters «Pro Homosexuelle». Von einem CVP-Mitglied hätte man etwas mehr Zurückhaltung erwartet.


Klartext sprechen, die Dinge beim Namen nennen, den Leuten nicht nach dem Mund reden – diese Eigenschaften waren typisch für meinen Vater. Entsprechend lustvoll setzte er sich während seiner über 20-jährigen Amtszeit als Landschreiber über so manche Konventionen hinweg, leistete sich den Luxus einer eigenen Meinung und freute sich, wenn er hin und wieder ein wenig Staub aufwirbelte. Mal stellte er sich innerhalb des Verwaltungsapparats, dem er selbst angehörte, quer. Mal legte er sich mit der Regierung, der er zu dienen hatte, an. Leidenschaftlich meldete er sich zu Wort, wenn ihn der Hafer stach.


Legendär seine Pamphlete gegen das in den 1990-er Jahren kursierende New Public Management, kurz NPM: eine Art Heilslehre, die damals in aller Munde war. Als die Zuger Regierung sich anschickte, mit der «strategischen Neuausrichtung» aus dem angelsächsischen Raum auch die Zuger Verwaltung auf Effizienz zu trimmen, las sich mein Vater durch das Papiermonster, entlarvte den Inhalt als Pseudoreform und hielt dagegen: «Alles Humbug», «heisse Luft», «gehobene Makulatur!», schrieb er an die Adresse der Exekutive. Nicht die Verwaltung oder gar Bürger würden von diesem Unsinn profitieren, sondern die Berater, die sich mit wohlklingenden und ausschweifenden Handlungsempfehlungen eine goldene Nase verdienten. Effizienz erreiche man nicht mit solchen Rohrkrepierern, sondern indem man weniger Sitzungen einberufe und stattdessen fokussiert das zuweilen auch mühselige Alltagsgeschäft erledige. Recht hatte er!


Durch seinen Kreuzzug gegen die undurchsichtige «Führungsphilosophie» erlangte mein Vater eine gewisse Bekanntheit. «Der Zuger Staatsschreiber hält NPM für eine vorübergehende Mode», schrieb die «NZZ» anlässlich einer Veranstaltung, zu der er 1997 vom Liberalen Institut Zürich eingeladen worden war. Sein Kampf gegen die «Segnungen der Politreligion NPM», so die «NZZ», zeige Wirkung. Tatsächlich: Aufgrund eines vom ihm mitverfassten Gutachtens wurde eine umfassende Reform im Zeichen von NPM zuerst von der Zuger Regierung und später vom Parlament nach viel Aufregung still und leise begraben.


Für Irritation sorgte er auch, als wieder einmal hoher Staatsbesuch auf dem Programm stand und die Zuger Regierung die Kollegen aus dem Kanton Glarus empfing. Wie immer hatte mein Vater als Landschreiber den Anlass zu planen und adäquate Geschenke zu organisieren. Doch diesmal weigerte er sich, die Gäste mit der üblichen Kirschflasche zu beglücken. Begründung: «Die verstauben doch sowieso in der Hausbar.» Stattdessen kaufte er unzählige CDs des Zuger Musikers Hans Kennel, den er zuvor an einem Konzert kennengelernt hatte und sympathisch fand. Kennel galt als Avantgardist, lotete die Grenzen zwischen Jazz und Volksmusik aus und schlug auf Trompete, Alphorn und Büchel schräge, experimentelle Töne an. Mein Vater wusste, dass dieser Sound in den Ohren des offiziellen Besuchs aus Glarus natürlich eine Zumutung war, doch zog er sein Ding durch. «Das ist Kulturförderung!» Er hatte einen guten Riecher: Ein paar Jahre später gewann Kennel den Innerschweizer Kulturpreis.


Mein Vater war ein sattelfester Jurist, er liebte den Umgang mit Gesetzestexten und Paragrafen. Aber er war kein Technokrat, hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Sehr oft stellte er in seiner täglichen Arbeit gesunden Menschenverstand und Pragmatismus vor ordnungspolitische Überlegungen. Als er von einer verzweifelten Mutter angefragt wurde, ob es in der Staatskanzlei eine Beschäftigung für ihren geistig leicht behinderten, aber sehr motivierten Sohn gebe, bot mein Vater sofort Hand und spannte André – so hiess der junge Mann – ein: zum Fotokopieren, Papierkorbleeren und Kaffeekochen. Als das Personalamt davon hörte, gabs Ärger. Der Vorwurf: Mein Vater hatte sich um eine geltende Personalverordnung foutiert und sich über einen kantonsrätlichen «Personalstellen-Plafonierungsbeschluss» hinweggesetzt. Er liess sich nicht beirren und sorgte mit einem juristischen Kniff dafür, dass André als Hilfskraft bleiben konnte – und dazu noch mit einem symbolischen Stundenlohn entschädigt wurde.


Empfindlich reagierte er, wenn er das Gefühl hatte, dass er mit einer juristisch einwandfreien Argumentation nicht gegen eine – aus seiner Warte – rein politisch motivierte Haltung der Regierung ankam. Keine Ruhe liess ihm der Fall «Mayinger», eine deutsche Familie, die Anfang der 1980er-Jahre in Oberägeri ein Einbürgerungsgesuch stellte. Die Bürgergemeinde wollte den beiden Töchtern, die ihnen nicht genehm waren, den Maximalbetrag von je 4000 Franken abknöpfen, obwohl sie noch in Ausbildung waren. Die Familie konnte es nicht fassen. Als der Fall auf dem Tisch meines Vaters landete, war für ihn klar: Die Gebühren waren völlig überrissen und unverhältnismässig. Üblich waren damals für vergleichbare Fälle zwischen 500 und 800 Franken.


Nachdem der Kanton als Aufsichtsorgan nicht intervenierte – man berief sich auf die Gemeindeautonomie –, spannte mein Vater seinen Parteikollegen, Kantonsrat Walther A. Hegglin, ein, der das Thema per Interpellation aufs politische Parkett brachte. Bestens mit dem Fall vertraut, schrieb mein Vater den Interpellationstext allerdings gleich selbst, nicht ohne eingangs die ganze Vorgeschichte en détail zu schildern und der Regierung – seiner Regierung! – ein paar unangenehme Fragen zu stellen. Ein Loyalitätsbeweis war dies nicht, aber was blieb ihm anderes übrig? Der Fall wurde zum Gesprächsthema, machte Schlagzeilen im «Blick», und die Familie reichte – wiederum ermuntert vom Landschreiber – gegen den Regierungsrat, der die Bürgergemeinde stützte, Beschwerde ein. Die Bürgergemeinde zog vor Bundesgericht und unterlag. Die Höchsttaxe, stellte Lausanne fest, sei ungerechtfertigt und müsse deutlich nach unten korrigiert werden.


Zu den Journalisten hatte mein Vater einen guten Draht. Medienschaffende wie Barbara Schmutz, Olivier Burger, Karl Etter, Ronald Schenkel oder Rolf Wespe kontaktierten ihn gerne per Telefon oder verabredeten sich mit ihm zu einem Kaffee; und dies nicht nur, weil der Landschreiber kompetent Auskunft erteilte, sondern vor allem auch, weil er unterhaltsam und immer mal wieder gut für ein knackiges Zitat war. «Mein Stellvertreter ist (noch) besser als ich!» lautete die Überschrift eines Porträts, das der Journalist Adrian Hürlimann 1994 über meinen Vater publizierte. Der Artikel lässt erahnen, wie blendend sich die beiden verstanden haben müssen. Wie es um den Einfluss des Landschreibers bestellt sei? «Der Landschreiber hat nicht das Sagen, kann aber überall dreinreden», so die Antwort. Wie er seine eigene Dissertation bewerte? «Von mittelprächtiger Qualität, wie die allermeisten Dissertationen.» Wie sein Verhältnis zur Regierung sei? «Ich bin ein gehobener Zudiener, aber kein Knecht.» Auch auf die Frage des Journalisten, wer denn eigentlich der Vorgesetzte des Landschreibers sei, war mein Vater nicht um eine originelle Antwort verlegen: «Ich habe nicht einen, sondern sieben Chefs. Also keinen.»


Schwer vorstellbar, dass ein heutiger Spitzenbeamter – beraten und kontrolliert von einem Heer geschulter Kommunikationsbeauftragter – sich zu solch pointierten Aussagen hinreissen liesse. Mein Vater konnte nicht anders. Und oft hatte man das Gefühl, dass er – der das Genre der Selbstinszenierung bestens beherrschte – immer wieder gezielt nach passenden Gelegenheiten suchte, um (letztlich aus der relativ sicheren Position des Staatsangestellten) für ein wenig Wirbel zu sorgen. Angesprochen auf sein Vorhaben, nach der Pensionierung als Rechtskonsulent eine kleine Anwaltskanzlei zu eröffnen, liess er sich in der Lokalzeitung wie folgt zitieren: «Nach 20 Jahren Staatsdienst endlich aktiv werden.» Der Präsident des Beamtenverbands war einmal mehr «not amused».


Mein Vater war ein Beamter, wie er unter aktuellen Rahmenbedingungen gar nicht mehr denkbar wäre. Auch entsprach er nie der Vorstellung eines typischen Parteimitglieds der CVP. Zum christlichen «Role Model» taugte er nicht. Dazu war er zu wenig konform und stand er zu stark im Clinch mit der katholischen Kirche, aus der er austrat. Ganz abgesehen davon hegte er immer wieder Sympathien für die Linke, weshalb er sich nach der Kantonsratssitzung, wenn Regierung und Parlament gemeinsam im Restaurant Löwen tafelten, am liebsten an den Tisch der alternativen Fraktion setzte. Dort fand er es unterhaltsamer, lockerer, spannender. Argwöhnische Blicke der CVP quittierte er, wie ehemalige Weggefährten berichten, heiter mit der Bemerkung: «Meines Wissens hat die CVP meinen Mitgliederbeitrag noch nie retourniert.»


Es war der Humor, die Lockerheit, die ihm so manchen Sympathiebonus einbrachte. Als ihn ein Journalist in einem Interview mal auf sein nicht allzu frühes Erscheinen im Büro am Postplatz ansprach, nahm er den Steilpass auf: «Ich bin unpünktlich, ja, schaue nicht ständig auf die Uhr, allerdings auch nicht am Abend», erklärte er, um sogleich einen Rapport der Securitas AG aus der Schublade zu holen, die ihn in der Nacht vom 13. auf den 14. August 1995 auf frischer Tat ertappt hatte: «Revier 203: 02.00 Uhr: Ein Herr verlässt das Gebäude und fährt mit PW ZG 11970 weg», stand da geschrieben. Tatsächlich, das war die Nummer seines BMW. Offenbar hatte mein Vater im Regierungsgebäude wieder einmal eine Nachtschicht geschoben und auf der Suche nach der perfekt formulierten Gesetzesvorlage die Zeit vergessen. Und dies alles, damit in der nächsten Regierungsratssitzung exakt jener Absatz gestrichen wurde, an dem er doch stundenlang herumgedoktert hatte.


Der Job als Landschreiber am Scharnier zwischen Regierungs- und Verwaltungsarbeit brachte es mit sich, dass mein Vater mal komplexe juristische Sachverhalte zu klären, mal ganz profane Aufgaben zu erledigen hatte. Als im August 1995 eine Einladung des eidgenössischen Personalamts auf seinem Tisch landete, in der zu einer zweieinhalbtägigen Veranstaltung mit dem Titel «Was können Bund und Kantone für Städte tun?» nach Montreux eingeladen wurde, war es wieder einmal um ihn geschehen. Rund 300 Beamte und Dutzende von hochkarätigen Referenten, so brachte er in Erfahrung, sollten zum «Erfahrungsaustausch» samt Hotelübernachtung in die Westschweiz reisen. Mein Vater war entsetzt.


Schriftlich wandte er sich an FDP-Nationalrat Georg Stucky und fragte mehr rhetorisch, wie «um Gottes willen die für effiziente Führung des Bundespersonals zuständige Amtsstelle» dazu komme, einen zweieinhalbtägigen, staatlich organisierten «Monsterkongress» zu planen. Die «Verlustierung» am Lac Léman, so mein Vater, würde rein gar nichts bringen, zumal jene, die längst um die Probleme zwischen Bund, Kanton und Gemeinden wüssten, «nicht reden, sondern endlich handeln sollten». Ganz konkret forderte mein Vater den Zuger FDP-Nationalrat in einem Brief auf, in Bundesbern in irgendeiner Form gegen die «gut gemeinte, aber völlig überrissene Show» zu intervenieren. Stucky reagierte nicht. So nutzte mein Vater eben seinen eigenen, wenn auch bescheidenen Spielraum und erliess zur «Eindämmung der Kongressinflation» eine interne Weisung, mit der er sämtlichen Angestellten der Zuger Kantonalen Verwaltung kurzerhand die Teilnahme verbot.


Unser Vater liess unsere Familie intensiv an seinem von Politik geprägten Berufsalltag teilhaben. So leidenschaftlich er sich über einzelne Mitglieder der Regierung aufregen konnte («Kulturbanausen!», «Angsthasen!», «Langweiler!»), so sehr konnte er sich für Charakterköpfe und Persönlichkeiten begeistern, die Courage zeigten. Sein Respekt galt politischen Jungspunden, Schwergewichten und Querköpfen wie Hanspeter Uster, Jo Lang, Dani Brunner, Hansueli Kamer oder Alois Hürlimann, dem ehemaligen Baudirektor, bei dem er vor seiner Landschreiber-Amtszeit als juristischer Sekretär angestellt war und mit dem er das «feu sacré» teilte.


Auch engagierte Kantonsräte wie ein Toni Gügler, Willy Wismer, Toni Kleimann, Beat Holdener oder aufmüpfige Parlamentarierinnen wie eine Claudia Schmid-Bucher, Anne Ithen, Madeleine Landolt oder Sybilla Schmid beeindruckten meinen Vater, weil sie mit Leidenschaft bei der Sache waren und tapfer dem politischen Gegenwind trotzten, der ihnen im konservativ geprägten Zug zuweilen heftig entgegenschlug. Umgekehrt schätzten diese – wie unzählige Beileidsbekundungen zeigten – seinen «unabhängigen und unerschrockenen Geist», sein «reges Interesse an Andersdenkenden» und sein Agieren «ohne ideologische Scheuklappen». Die Einrichtung eines Gleichstellungsbüros – da drang dann wieder der Konservative in ihm durch – fand mein Vater aber völlig überflüssig. «Selbstbewusste Frauen», pflegte er auch uns Töchtern zu sagen, «haben das doch gar nicht nötig!».


Sein grosses Büro im Regierungsgebäude, mit Seesicht und Vogelgezwitscher von der nahe gelegenen Volière, war eine Art zweites Zuhause. Dafür sorgten auch die beiden von ihm hochgeschätzten Sekretärinnen, die ihm Jahrzehnte die Treue hielten. Wenn er nicht von Telefonaten unterbrochen werden wollte, packte er kurzerhand seine sieben Sachen und dislozierte ins nahe gelegene Mövenpick. Dort traf er sich zum Austausch mit dem juristischen Sekretär der Finanzdirektion: Dieter Delwing, gebürtig aus Saarbrücken, scharfsinnig, voller Esprit, Schalk und erlesener Eleganz. «D.D.», wie ihn alle nannten, sollte im Laufe der Jahre der wichtigste Sparringpartner und der beste Freund meines Vaters werden. Als Duo genossen sie – zumindest im Dunstkreis des lokalen Verwaltungs- und Politbetriebs – eine gewisse Popularität.


Als die beiden Herren im Frühling 1998 gemeinsam in Pension gingen, räumten die Medien den Zurücktretenden mit Interviews und Fotos so viel Platz ein, als handle es sich um Politstars, die zum letzten Mal auf Tournee gehen. Headlines: «Das Power-Duo tritt ab», «Sie waren der Stachel im Fleisch», «Ein ungemein interessantes Gespann», «Die Ära Windlin geht zu Ende». Im Bulletin der Sozialistisch Grünen Alternativen bedankte sich die Redaktion «mit Respekt und Hochachtung von diesen zwei starken Persönlichkeiten für die faire und offene Haltung, die sie auch einer Minderheit im Parlament entgegengebracht haben». So viel Huldigung war dem FDP-Urgestein Ulrich Bollmann dann doch zu viel. Unter dem Titel «Zelebrierung des Selbstverständlichen» relativierte er in einem ausführlichen Leserbrief der Zuger Presse den Lobgesang. Die Journalisten seien bei ihrer Berichterstattung dem Hang der Belobigung erlegen und würden die zwei Herren in «irreale Höhen» positionieren – «Leider. Denn so schlecht waren die beiden nicht.»


Für eine letzte Schlagzeile sorgte mein Vater, als er gar nicht mehr in Amt und Würde war. «Zuger Posse um Weinkiste – Geschenkpraxis von alt Landschreiber Hans Windlin untersucht» lautete die Überschrift einer Story, die zwei Monate nach seiner Pensionierung im Juni 1998 in der «Zuger Presse» zu lesen war. Das Blatt hatte aus gut unterrichteten Kreisen erfahren, dass mein Vater kurz zuvor seinem Freund und Stellvertreter Delwing zum 65. Geburtstag eine Kiste mit sechs Flaschen Wein auf Staatskosten im Wert von stattlichen 950 Franken überreichte. Das Reglement sah für solche Geschenke maximal 200 Franken vor. Als der Journalist bei der Regierung abklären wollte, ob der Sachverhalt so zutreffe, ersuchte diese bei meinem Vater umgehend um eine Erklärung. Seine Antwort kam postwendend, und wer ihn kannte, ahnt, dass ihm auch die Formulierung dieser Stellungnahme – in welcher er sich zunächst maliziös für die Gewährung des «rechtlichen Gehörs» bedankte – diebisch Freude bereitet haben muss.


Selbstverständlich, so schrieb er sich per Fax in Stimmung, sei er sich bewusst, dass die Geste «nicht der Usanz entspricht». Ebenso wenig der Usanz entspreche aber auch der Einsatz des Finanzsekretärs. Was der Kanton dank der Leistung des hochkarätigen Juristen Delwing eingespart habe, stehe in keinem Verhältnis zu den beanstandeten Kosten des Geschenks. Doch offensichtlich sehe die Regierung dies anders. Deshalb werde er dem Kanton nicht nur die Differenz zwischen den üblichen und den effektiven Geschenkkosten zurückerstatten, sondern den Fehlbetrag von 750 Franken zur Deckung der Umtriebe auf 1000 Franken aufrunden. Ebenso würden er und Delwing die beiden Gemälde mit einem Wert von je 8000 Franken, die sie zur Pensionierung vom Kanton erhalten hätten, in ihrer Anwaltskanzlei zum Abholen bereithalten. Begründung: Ein solches Präsent sei nicht «mit der Usanz» vereinbar.


Es war der letzte (mediale) Aufreger, den mein Vater als Person von sogenanntem «öffentlichen Interesse» bzw. als «höchster Beamter im kleinsten Vollkanton» (wie er sich gerne nannte) produzierte. Die Lust am Provozieren, die Freude am Diskurs, an der Auseinandersetzung und auch am Streit, verbunden mit einem köstlichen Humor, begleiteten ihn als Privatmann und Familienmensch bis ins hohe Alter. Im März 2023, kurz nach seinem 88. Geburtstag, erlitt mein Vater einen Schlaganfall, von dem er sich jedoch nie mehr richtig erholte. Die Einbusse an Selbständigkeit deprimierte ihn, die Vorstellung, in diesem Zustand noch länger zu verharren, quälte ihn. «Mein Bedarf an Lebenszeit ist gedeckt», liess er uns wissen. Ein Wunsch, den es zu respektieren galt. Urteilsfähig, selbstbestimmt, bei klarem Verstand und im Kreise seiner Familie verabschiedete sich «Ha-Wi» am 18. August 2023 mit einem Cocktail in der Hand. Selbstverständlich ging ihm dabei noch ein passender Spruch über die Lippen: «Ich bin nicht aus Spass Mitglied bei Exit geworden.»