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Zentralplus

ZUSAMMENARBEIT

Regine Giesecke (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

23.1.2024

NEIN, DAS IST KEINE THEATERKULISSE

 

Die sechs Riegelhäuser an der Gartenstrasse in Cham sind bau- und sozialgeschichtlich von grosser Bedeutung. Die Papierfabrik liess sie 1924 für ihre Mitarbeiter errichten. Eines der denkmalgeschützten Häuser wurde unlängst saniert und erstrahlt zum 100-Jahr-Jubiläum in neuem Glanz.

 

Bauliche Zeitzeugen, die auf die Präsenz wichtiger Arbeitgeber, Gewerbe- und Industriebetriebe zurückgehen, können auch dann noch ortsbildprägend sein, wenn Letztere nicht mehr produktiv sind. Die Rede ist von stilvollen Direktorenvillen, alten Fabrikhallen, Produktionsstätten oder spezifischen Nebengebäuden, die an vergangene Zeiten erinnern.

 

Fährt man vom Chamer Dorfzentrum Richtung Knonau und biegt nach wenigen Metern in die Gartenstrasse ein, stösst man im Wohnquartier Löbern unverhofft auf solche Zeitzeugen. Sechs wunderschöne Fachwerkbauten mit grosszügigem Umschwung und gepflegten Vorgärten stehen da und schmeicheln dem Auge. Umrandet sind sie mit leicht verwitterten, hölzernen Gartenzäunen. Gebaut wurden die Häuser 1924 nach dem Entwurf des Chamer Baumeisters Wilhelm Hauser. Auftraggeberin war die nahegelegene Papierfabrik Cham, welche die Wohnungen ihren Werkmeistern zur Verfügung stellte. Gut erhalten, bilden sie bis heute ein stimmiges Ensemble in der ehemaligen Arbeitersiedlung.

 

Architektonisch prägend sind die grossflächigen, mit Ziegeln bedeckten Giebeldächer, die weissen Fassaden mit dem roten Fachwerk und die grünen Jalousieläden. Die Häuser stehen nicht nur unter kantonalem Denkmalschutz. Sie sind auch im Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) erfasst; und geniessen dort das höchste Erhaltungsziel der Kategorie «A».

 

Von den zahlreichen Arbeitersiedlungen, welche die Papierfabrik für ihre Angestellten bauen liess, stellt die Häuserreihe an der Gartenstrasse mit Abstand die intakteste Wohnkolonie dar. «Die im typischen Heimatstil errichteten Doppeleinfamilienhäuser mit Nutzgärten entsprachen der damaligen Idealvorstellung des Eigenheims», erläutert die Zuger Denkmalpflegerin Karin Artho. «Es ist äusserst selten, dass wie hier ein ganzes Ensemble erhalten ist. Die Bauten prägen das Quartier und erfreuen auch Passantinnen und Passanten, die nicht darin wohnen.»

 

Bettina Hutter kann das bestätigen. Die 49-jährige Kindergartenlehrerin erwarb die Liegenschaft Nr. 16 zusammen mit ihrem Mann Roland im Jahre 2021. «Ein Glücksfall», sagt sie und erzählt von den zahlreichen Bemühungen um Wohneigentum, die sie unternahmen, nachdem ihr vormaliger Vermieter in der Siedlung «Rankhof» Eigenbedarf angemeldet hatte. Der Hausteil an der Gartenstrasse war im Internet ausgeschrieben – allerdings nur für 24 Stunden, denn das Echo auf das Kaufinserat war riesig.

 

Dass der offizielle Startpreis von 1,05 Millionen Franken für das sanierungsbedürftige Objekt im Rahmen des Bieterverfahrens noch ordentlich in die Höhe schnellte, kann man sich vorstellen und strapazierte bei Hutters die Nerven. Aber das eigentliche Abenteuer, erzählen sie, ging erst los, als der Kauf unter Dach und Fach war und man das denkmalgeschützte Haus einer umfangreichen Sanierung unterzog, um die mehrstöckige Liegenschaft aus- und umzubauen. Der vorherige Eigentümer – dessen Vater arbeitete noch bei der «Papieri» – lebte ausnehmend bescheiden und hinterliess ein Haus, das sich kaum mit den Vorstellungen der neuen Eigentümer deckte. Zudem hatte die Liegenschaft zwei Jahre lang leer gestanden, was zusätzliche Sanierungsarbeiten erforderte.

 

Um Kosten zu sparen, aber vor allem auch aus Freude an der Sache, legte das Ehepaar teilweise selbst Hand an. Schadhafte und historisch weniger wichtige Bauteile wurden entfernt, artfremde Materialien entsorgt, minderwertige Schichten von Böden, Wänden und Decken abgetragen. Unglaublich, was da – abgesehen von Zement, Mörtel und Verputz – alles zum Vorschein kam und entsorgt werden musste: Pavatex-, Span- und Korkplatten, Resten von Tapeten und Spannteppichen, zerfallene Schilfmatten, verklebter Kunststoff, Leisten, Laminat und zwei verwaiste Hornissen- und Vogelnester. Nicht weniger als acht Mulden wurden gefüllt und abtransportiert.

 

Das Ziel der Bauherrschaft war klar: die Qualitäten des bauhistorisch wertvollen Hauses mit teilweise versteckten, alten Balken und Riegeln, mit kaschiertem Täfer und überdecktem Pitchpine-Parkett wieder sicht- und erkennbar machen. Pitchpine? Der harte, hochwertige und harzreiche Bodenklassiker aus Mittelamerika – gefertigt aus Sumpfkiefer – kam nach längerem Abtragen unverhofft im Erdgeschoss zum Vorschein. Er stammt aus der Bauzeit, wurde im Rahmen der Sanierung geschliffen, neu geölt und erstrahlt seither wieder in dem für das Holz charakteristisch rötlichen Farbton.

 

Auch die apparte Innentreppe mit den gedrechselten Staketen erhielt ein Facelifting. Zudem wurden sämtliche Türen nach dem Vorbild der original erhaltenen Wohnzimmertüre rekonstruiert und mit gusseisernen Klinken versehen. Harmonisch wirkt das auf Weiss, Beige und Türkis beruhende Farbkonzept, wobei auf Vorgabe der Denkmalpflege alle historischen Holzflächen mit Leinölfarben bestrichen wurden. Im Gegensatz zu industriell hergestellten Farben erlauben sie eine besonders authentische Instandsetzung.

 

Dass nach fünfmonatiger Sanierungszeit ein in jeder Hinsicht gelungenes Resultat erzielt wurde, ist nicht nur der motivierten Bauherrschaft, sondern auch einem Schreinermeister aus dem appenzellischen Trogen zu verdanken. Bettina Hutter konnte ihren Cousin Andreas Welz verpflichten, der sich mit traditionellem Handwerk auskennt, innovative Raumkonzepte schafft und als verantwortlicher Bauleiter dem hundertjährigen Haus mit gezielten Eingriffen am Grundriss und durchdachten Elementen im Innenausbau zu einer schlichten Modernität verhalf. «Wir haben bewusst auf einen Architekten verzichtet und den Weg über das Handwerk gewählt. So orientierten wir uns von Anfang an am Machbaren», sagt Bettina Hutter.

 

Kreativität war dennoch gefragt. Statt – wie ursprünglich geplant – die kleine Küche zu öffnen und ins Esszimmer zu integrieren hat man lediglich den oberen Teil der Verbindungswand eliminiert und so eine grosszügige Durchreiche geschaffen, die fast wie eine Bar daherkommt – damit wurde der Wohn- und Küchenbereich in eine zweigeteilte helle Zentrale mit Durchblick verwandelt. Die vier kleinen Sprossenfenster – optisch dem historischen Original ähnlich, aber mit Isolierverglasung sowie lärm- und wärmedämmend – bieten Ausblick auf Apfel- und Feigenbäume und eine üppige Kiwi-Pergola.

 

Apropos Garten: Er bietet in den Sommermonaten nicht nur Platz zum Verweilen, sondern bildet einen wichtigen Bestandteil der denkmalgeschützten Anlage. Denn die grosszügigen Gemüsebeete erlaubten den Angestellten der Papierfabrik einst ein hohes Mass an Selbstversorgung. Der Menüplan wurde aufgewertet, das Haushaltsbudget geschont. Zwar haben mittlerweile einige Nachbarn die Beete zu Gunsten von deutlich weniger aufwändigen Rasenflächen reduziert, aber nach wie vor viele Bewohner wissen den Garten zu schätzen und kümmern sich mit viel Engagement um das Obst und Gemüse vor der eigenen Haustür. Im Garten Nr. 16 etwa gedeihen nebst Äpfeln, Feigen und Kiwis auch noch Birnen, Bohnen, Sellerie, Zucchetti, Zwiebeln, Karotten, Kartoffeln, Kohlrabi, Knoblauch, Kürbis und Kabis sowie unzählige Stauden mit Beeren, ganz nach dem Motto: Aus der Region. Für die Region.

 

«Der Garten ist ein verbindendes Element im Quartier», erzählt Bettina Hutter. «Man tauscht sich aus, erkundigt sich, ob Obst und Gemüse gedeihen und hat so immer Gesprächsstoff.» Vielleicht ist dieses nachbarschaftliche Miteinander mit jenem zu vergleichen, das 1924 herrschte, als die ersten Bewohner in die Siedlung zogen. Im Gegensatz zu früher, als hier manch ein Fabrikarbeiter noch Schweine und Hühner hielt, hat sich der (Nutz-)Tierbestand allerdings merklich reduziert. Einzig die Hutters beherbergen im Garten noch drei grosse, weisse Kaninchen. Diese dienen allerdings nicht der Selbstversorgung, sondern geniessen die volle Aufmerksamkeit der Kinder aus der Nachbarschaft und somit den Status anerkannter Quartierbewohner.