AB IN DEN WALD
Nirgendwo ist es an heissen Sommertagen so angenehm kühl wie im Wald. Die Beliebtheit des sensiblen Ökosystems bei der Bevölkerung hat aber auch problematische Seiten. Unterwegs mit Revierförster Roman Merz vom Amt für Wald und Wild.
Der Terminplan, den die Schreibende für Interview und Recherchen mit Förster Roman Merz ausgeheckt hat, wird noch am Vorabend über den Haufen geworfen. Zu später Stunde hat sich im Gebiet Raten ein Wildunfall mit einem Reh ereignet. Merz hat Pikett und muss anderntags frühmorgens mit seinem Hund zum Unfallort auf Spurensuche und abklären: Ist irgendwo ein verletztes Tier zu finden, das man vom Leid erlösen muss?
Statt um 8 Uhr trifft Merz eine Stunde später in seinem Büro an der Ägeristrasse 56 in Zug ein; an der Leine Schweisshündin Pakuna, die das Gebiet um den Unfallort mit ihrer feinen Nase abgesucht hat. «Nichts gefunden », sagt Merz. «Wir gehen davon aus, dass das Tier inzwischen das Weite gesucht hat.» Merz trägt Schirmmütze, Wanderschuhe, Flanellhemd und eine schwarz-grüne Arbeitshose. Der imposante Bart verleiht dem 37-Jährigen eine bodenständige, urchige Note und lässt ihn etwas älter aussehen, als er tatsächlich ist. Legen wir zuerst mit dem Interview los, bevor wir gemeinsam ein durch Roman Merz betreutes Revier aufsuchen: ein Stück Privatwald im Sijentalwald zwischen Buonas und Rotkreuz.
Aufgewachsen auf einem von Wald umgebenen Bauernhof im Unterägerer Hürital ging Merz schon immer gerne «ins Holz». Wald, Tiere, die Natur ganz allgemein – das hat ihn von Kindsbeinen an fasziniert. Sein Vater bewirtschaftete den Bauernhof, die Mutter führt bis heute die bekannte Alpwirtschaft Ochsenfeissi. Bereits mit vier Jahren liess der kleine Roman seine Eltern wissen: «Ich will Förster werden.» Nach einer Lehre als Forstwart, der Ausbildung zum Förster und mehreren Jahren als Betriebsleiter bei der Korporation Unterägeri hat Roman Merz im September 2022 eine neue berufliche Herausforderung als Revierförster im AFW angenommen. Die Hälfte seines Vollzeitpensums widmet Merz dem Thema Erholungswald und Besucherlenkung – also der Herausforderung, wie die vielen verschiedenen Nutzergruppen, die den Wald für ihre Freizeit aufsuchen, aufgeklärt, sensibilisiert und in geordnete Bahnen geführt werden können, sodass ein konfliktfreies Miteinander von Mensch und Tier im Lebensraum Wald möglich ist. «Fachmann Erholungsnutzung » heisst die offizielle, etwas technokratische Bezeichnung für diesen Job.
Vor allem jetzt, im Sommer, wo der Wald noch stärker frequentiert wird, wo Wanderer, Jogger, Velofahrer, Reiter – kurz: Freizeitsportler aller Art – unterwegs sind, wo Beeren gepflückt und Drohnen entsandt werden, grilliert und gezeltet wird, Familien und Schulklassen zum Picknick aufbrechen, wird diese Arbeit immer wichtiger und braucht es entsprechend Prävention und Massnahmen. Es sei toll, betont Merz, dass so viele Leute den Wald mögen, er gehöre schliesslich auch dazu. «Aber bei manchen fehlt das Bewusstsein, dass hier auch Tiere leben, die Ruhe brauchen; das Bewusstsein, dass der Wald keine rechtsfreie Zone, sondern ein sensibles Ökosystem darstellt und immer jemandem gehört: den Korporationen, dem Kanton, den Gemeinden oder Privaten.»
Mit dem seit 1907 im Schweizerischen Zivilgesetzbuch verankerten Recht, den Wald frei betreten zu dürfen, sei auch eine Verpflichtung verbunden, betont Merz: «Dem Wald als Lebensraum Sorge zu tragen und ihm mit dem gebotenen Respekt zu begegnen.» Dazu zählt, dass man Absperrungen beachtet und Fahrverbote ernst nimmt, dass man nicht jeden noch so abgelegenen Forstweg befährt, nur weil es mit dem batteriebetriebenen Mountainbike so gut geht.
Angesagt sind im Kanton Zug die stärkere Präsenz von Aufsichtspersonen in gut frequentierten Waldstücken, eine bessere Signalisation vor Ort und mehr digitale Information, allem voran eine App, wo Waldbesucher alles finden, was sie an Infrastruktur suchen: Wander- und Velowege, Grillplätze, Aussichtspunkte, Vita-Parcours, Waldspielplätze, Waldhütten usw. usf. Vermehrt sollen Aufsichten mit den Leuten das Gespräch suchen und Unbelehrbare nötigenfalls sanktionieren. Der Kantonsrat heisst die Massnahmen gut, hat im vergangenen März ein Postulat teilerheblich erklärt und die finanziellen Mittel für dessen Umsetzung gesprochen. Dass Handlungsbedarf besteht, ist schon lange klar, doch aufgeschreckt hatte vor kurzem ein besonders krasser Fall: Da trafen sich Motorradfahrer für eine Spritztour im Naturschutzgebiet Gutschwald in Oberägeri.
Merz erklärt den – vor allem durch Corona ausgelösten – Waldboom wie folgt: «Alle wollen fit und gesund sein, sich nach Stunden am PC oder hektischen Terminen in einer vollen Agenda im Wald erholen. Dies darf aber nicht auf Kosten von Flora und Fauna geschehen.» Apropos frische Luft: Wollten wir nicht noch in den Sijentalwald, wo Roman Merz eine grössere Parzelle Privatwald betreut? Hündin Pakuna hätte bestimmt nichts gegen einen Ausflug ins Gehölz. Sie hüpft schon aus ihrem Körbchen, das neben dem Schreibtisch von Roman Merz steht, und wedelt mit dem Schwanz. So packen wir also unsere sieben Sachen, steigen in den AFW-Pick-up und fahren Richtung Rotzkreuz.
Bei einer kleinen Einfahrt parkiert Merz den Wagen, lässt Pakuna aus dem Auto und nimmt sie sofort an die Leine. Beim Wald handelt es sich um einen sogenannten Mischwald. Bergahorn, Buchen und Birken findet man hier ebenso wie Fichten. Logisch! Der Platzhirsch unter den Bäumen im Zuger Wald – mit einem Anteil von 40 Prozent – wurde schweizweit und jahrzehntelang gezielt aufgeforstet, weil die Holzwirtschaft dies so wollte. Der Vorteil der Fichte: Ihr Holz kann man relativ früh ernten. Laubholz hingegen braucht länger, bis es erntereif ist, und wirft somit erst später einen Ertrag ab. Mittlerweile hat aber ein Umdenken stattgefunden, und man ist sich einig, dass künstliche Monokulturen nicht sehr nachhaltig sind. Zudem, so Merz, sei die Fichte, da flachwurzlig, ziemlich sturmanfällig. «Ein weiteres Problem besteht darin, dass Fichtennadeln sauer sind und den Oberboden des Waldes, also jene Bodenschicht, wo Würmer aktiv sein sollen, versauern. Da wuchern dann die Brombeeren », erklärt der Fachmann und zeigt auf eine Fläche mit Fichten, wo unzählige stachelige Äste wuchern. Ein veritabler Brombeerdeckel hat sich da im Unterholz gebildet. Er hemmt die natürliche Verjüngung.
Beliebt wegen seines Vita-Parcours und des Waldlehrpfades der Korporation, kennt man den Sijentalwald aber noch aus einem anderen Grund. 2021 wütete im Ennetseegebiet ein Unwetter, das auch den Baumbestand im Sijentalwald arg in Mitleidenschaft zog und unzählige Bäume schädigte. Viel Holzschlag gibt es darum hier in nächster Zeit nicht zu tätigen. In Teilgebieten kann es gar Jahrzehnte dauern, bis wieder Holz genutzt werden kann. Unabhängig davon gilt im Wald das Nachhaltigkeitsprinzip. Das heisst: Es darf nicht mehr Holz genutzt werden, als nachwächst. Ebenso beachtet werden muss: Im Schweizer Wald darf kein Baum gefällt oder entnommen werden, ohne dass er vorgängig nicht entsprechend von einem Revierförster mit Farbe oder Beil gekennzeichnet wurde. Und tatsächlich stehen wir jetzt gerade an einem solchen Baum, einer stattlichen Esche, deren zähes und biegsames Holz so geschätzt wird.
An deren Stamm sticht eine fette pinkfarbige Markierung ins Auge. Diese wurde allerdings wiederum mit einem grossen blauen Punkt übermalt. Der Revierförster klärt auf: «Der blaue Punkt bedeutet, dass der private Waldbesitzer nicht möchte, dass dieser Baum gefällt wird. Das kann legitime Gründe haben.» Merz begutachtet die Esche und stellt fest, dass sie vom sogenannten Eschensterben betroffen ist, sich also ein aggressiver Pilz an ihr zu schaffen gemacht hat. Das bedeute aber nicht, dass die Esche nichts mehr wert sei. «Auch ein kranker oder toter Baum kann ein wichtiger Lebensraum für Insekten, Vögel oder Eichhörnchen sein. Er kann einen so hohen ökologischen Wert haben, sodass man ihn – wenn er nicht instabil ist und keine Gefahr von ihm ausgeht – durchaus stehen lassen kann», so Merz. Der Baum bildet dann innerhalb des Waldes einen eigenen kleinen Lebensraum. Aber eben: Die Sicherheit von Passanten muss entlang offizieller Infrastruktur gewährleistet sein. Wer möchte schon beim Joggen oder Grillieren von einem Baum erschlagen werden?
Faszinierend, was es alles zu lernen gibt! Bedauernswert, dass man als Laie so vieles gar nicht wahrnimmt. Im Gegensatz zum Profi. Im Gegensatz zu Förster Merz. Der schaut gerade schweigend gegen den Himmel und hält inne: «Hoch über einer Fichte dreht schon seit längerem ein Rotmilan seine Runden, bleibt aber immer mehr oder weniger in Nähe der Baumkrone. Vielleicht hat er hier ein Nest mit Jungen und sucht nach Nahrung.» Und was ist mit der dürren Fichte nebenan los? «Sieht so aus, als wäre die mal vom Buchdrucker – einem Fichtenborkenkäfer – befallen gewesen. Trotzdem hat auch dieser tote Baum eine Daseinsberechtigung», so Merz. «Der Stamm ist vollgepickt mit Löchern, die mit Sicherheit von einem Specht stammen, der sich im Innern seine Nahrung sucht.» Wir wissen jetzt: Totholz hat eine wichtige Funktion im Wald, und es muss nicht zwingend eliminiert werden, sofern der restliche Bestand nicht gefährdet ist. Ganz abgesehen davon, dass es finanziell unverhältnismässig wäre, wegen ein, zwei Bäumen die grossen Forstfahrzeuge in den Wald zu karren. Einen Holzschlag plant man lange im Voraus, und er wird erst getätigt, wenn es mehrere Bäume gleichzeitig zu fällen gibt.
Jetzt wollen wir vom Profi aber endlich wissen, wie man eine Rottanne (im Forst spricht man von Fichte) von einer Weisstanne (im Forst spricht man von Tanne) unterscheidet. Roman Merz zwickt ein Ästchen einer Weisstanne ab und dreht es um. Eine weissliche Fläche kommt zum Vorschein. «Noch Fragen?» Und woran erkennt man die Fichte? Roman Merz hält Ausschau, marschiert auf ein kleines Bäumchen zu und zwickt ebenfalls ein Ästchen ab. «Fichtennadeln sind viel feiner und spitziger und rund um den Ast angeordnet.» Prüfend begutachtet Merz sodann die Knospen einer Gruppe junger Nadelhölzer und vergewissert sich, ob das Wild sich nicht daran zu schaffen gemacht hat. «Sieht gut aus», meint er zufrieden. «Kaum Verbiss. Ein Zeichen, dass der Wildtierbestand intakt ist.»
Auch sonst ist Revierförster Merz voll des Lobes für den Wald. «Mein Vorgänger hat professionelle Arbeit geleistet. Das sieht man sofort.» Der Wald sei überdies stufig, will heissen, man findet verschiedene Altersstufen auf einer Fläche. Und da und dort zeigt sich schöner Unterwuchs: Sträucher und Stauden wie der wollige Schneeball oder die Heckenkirsche. Wertvoll sind auch sogenannte Lichtkegel, damit es für die jungen Bäume nicht zu schattig wird und ihre Triebe wachsen. Dazwischen darf es durchaus wieder etwas «Starkholz» sein, also Bäume mit mindestens 50 Zentimetern Durchmesser. Nach einer Weile stossen wir auf eine Fläche, in der zahlreiche Holzstöcke stecken, die wiederum mit einem Plastik umrollt sind. «Hier wütete eindeutig der Sturm, und man hat offensichtlich wieder junge Bäumchen angepflanzt, vor allem Ahorn und Eiche. In zwanzig Jahren wird das bei genügend Wasser, Licht und Nährstoffen ein sensationeller Wald», freut sich Merz.
Langsam neigt sich unser Spaziergang dem Ende zu, obwohl es vom Revierförster noch viel zu erfahren gäbe, zumal er sichtlich Freude bekundet, seine Leidenschaft für den Wald mit einer Journalistin zu teilen. Kein Wunder, dass der junge Familienvater auch mit seiner Frau und den beiden Kindern oft im Wald unterwegs ist. Der dreijährige Toni läuft schon jetzt wie ein Experte mit dem Feldstecher durch den Wald und hält nach Füchsen, Hasen, Vögeln Ausschau. Die einjährige Seline freut sich vorerst einfach darüber, wenn sie durchs Laub rennen und die vielen Blätter vom Boden aufwirbeln kann.
Roman Merz bedauert es, dass viele Waldbesucher vor allem auf Action und Sport aus sind, auch im Wald das Telefonieren nicht bleiben lassen können und zur musikalischen Unterhaltung sogar noch die «in ear»-Kopfhörer im Ohr stecken lassen. Mehr profitieren vom Aufenthalt im Wald würde man, wenn man den natürlichen Soundtrack des Waldes auf sich wirken liesse, wenn man lauschen und innehalten würde. «Man kann so viel entdecken oder eben auch verpassen.» Vor allem in der Dämmerung passiere im Wald einiges. Gerade neulich war Merz am späteren Nachmittag im Sijentalwald unterwegs. Nur wenige Meter vom Waldrand entfernt erblickte er auf einem Baumstrunk ein junges Füchslein.
ENDE LAUFTEXT
Der Wald – die perfekte Klimaanlage
Warum herrscht auch an heissen Sommertagen im Wald ein so angenehmes Klima? Erstens sorgt das schattenspendende Dach des Waldes dafür, dass einem die Sonne nicht direkt auf den Kopf brennt. Zweitens liegt an manchen Tagen die Temperatur in Waldgebieten bis zu 6 Grad tiefer als in Wohngegenden. Über ihre Spaltöffnungen schwitzen die Blätter und Nadeln der Bäume das aus dem Waldboden aufgenommene Wasser wieder aus – was zusätzlich einen kühlenden Effekt hat. Ein Hektar Wald mit durchschnittlichem Baumbestand kann an warmen Tagen bis zu 60 000 Liter Wasser verdampfen und seine Umgebung auf natürliche Weise kühlen. Nicht nur der Waldbesucher profitiert von diesem Effekt, auch die Umwelt: Über den Wipfeln der Bäume ist es kühler als über bebautem Land. Forscher haben herausgefunden, dass auch Grasland eine kühlende Wirkung hat. Aber der Wald mit seinen tief verwurzelten Bäumen ist bei längeren Hitzeperioden als Klimaregu-lator noch besser – und somit die beste Klima