PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Herbert Zimmermann (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

7.6.2010

NOTEN STATT SMILEYS

 

Brauchen Schüler Noten, um besser zu lernen? In der Leistungsgesellschaft verschärft sich die Debatte um die Leistungsmessung an Schulen.

 

Wenn es um Noten geht, kommt Viktor Krummenacher richtig in Fahrt: «Noten sind ein ungerechtes, unpädagogisches Mittel, das die Schülerinnen und Schüler am Gängelband durch die Schule führt, sie schwächt und falsch ausrichtet.» Der 63-jährige Basler Lehrer spricht aus 30-jähriger Erfahrung an Schweizer Volksschulen, an welchen er sowohl mit auch ohne Noten unterrichten konnte.  Das notenfreie System überzeugte ihn jeder Hinsicht: «Es war ein Segen!», bilanziert der soeben Pensionierte - «für beide Seiten!»

 

Doch die notenfreie Schule steht momentan arg  in der Kritik. «Nach einem Boom von alternativen Beurteilungsformen in den 90-er Jahren», bestätigt Urs Vögeli von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, «ist nun eindeutig ein Backlash zu beobachten.» Noten, auch ganz zu Beginn der Schulkarriere, seien wieder im Trend, so der Experte und Co-Autor des Buches «Noten, was denn sonst?» Bei der Eidgenössischen Erziehungsdirektoren Konferenz (EDK) bestätigt Alexander Gerlings: «Die notenfreie Beurteilung gerät unter Druck.»

 

Der Kanton Genf hat vor gut drei Jahren per Volksabstimmung die Wiedereinführung des Notenobligatoriums auf Primarschulebene, und somit die Wiederherstellung alter Zustände, beschlossen. Im Kanton Zug, wo Kinder erst ab der 4. Klasse Noten erhalten, sammelt die SVP gegenwärtig Unterschriften für eine Volksinitiative, die ein Notenobligatorium ab der 1. Klasse fordert. Das Stimmvolk von Appenzell Ausserrhoden, wo während neun Jahren auf Primarschulebene keinerlei Noten verteilt wurden, hat letzten Frühling eine SVP-Initiative gutgeheissen, die Noten wieder für obligatorisch erklärt. Das Resultat kam einer Ohrfeige für Regierung, Parlament und die betroffenen Lehrer, Schüler und Eltern gleich, die das Beurteilungssystem ohne Ziffernnoten als «echte Errungenschaft» gelobt haben.

 

Man wäre verleitet, die Volksverdikte als Zufallstreffer abzutun, wären sie nicht mit solch deutlichem Mehr gefallen: In Appenzell sagten 67 %, in Genf gar 75 % Ja zum Notenobligatorium: «Das Volk will ein möglichst einfaches Notensystem», erklärte das Ausserrhoder Initiativkomitee seinem Abstimmungserfolg. Kann es sein, dass Schulexperten und Bildungsforscher, die sich jahrelang für Alternativen zu Ziffernnoten stark gemacht haben, am Volk vorbei agieren?

 

Zwei Lager stehen sich gegenüber: Die eine Gruppe sieht in möglichst frühen Zensuren eine absolute Notwendigkeit, Voraussetzung für Transparenz und ein unverzichtbares Instrument für die Einteilung in spätere Schultypen. Die andere Gruppe verteufelt Noten bei Schulanfängern als nicht altersgerecht, motivationshemmend, unfair oder sogar diskriminierend. Leiser sind jene Stimmen, die zu Noten ein unverkrampftes Verhältnis pflegen, sie als «nötiges Übel» akzeptieren, die Schüler dazu bringen, sich in den Fächern, die sie nicht mögen, wenigstes ein bisschen anzustrengen und damit doch noch einen minimalen Wissensstand zu erreichen. Rund 30'000 Stunden, hat der Bildungswissenschaftler Amet Dzelili ausgerechnet, würden Schweizer Maturanden in ihrer 13jährigen Schulkarriere dem fiktiven Ziel «gute Noten» widmen, und kritisiert die «Notenmentalität», die darin bestehe, dass das Interesse allein der Note gelte und nicht den Lerninhalten. «Dies zeigt sich an den beinahe manisch anmutenden Kalkulationen der tatsächlichen und möglichen Notendurchschnitte unter Berücksichtigung der Güte der Lehrkraft bezüglich des Auf- und Abrundens.»

 

Fakt ist, dass Noten nach wie vor eine hohe Akzeptanz geniessen und in der Schule vorläufig kein Weg an diesem Bewertungssystem vorbeiführt, auch wenn hier die Kantonsautonomie Urständ feiert: Eine soeben aktualisierte Liste der EDK zeigt: Glarus, Graubünden, Aargau und Tessin geben Noten ab der 1. Klasse; Zürich, St. Gallen, Schwyz ab der 2. Klasse; Bern, Genf und Luzern ab der 3. Klasse; Obwalden und Solothurn ab der 4. Klasse; Nidwalden und Waadt ab der 5. Klasse, Neuenburg ab der 6. Klasse, um nur einige Beispiel zu nennen.

 

Die Kinder selber, hört man immer  wieder, wollten möglichst früh Noten, damit sie sich messen und vergleichen können, sportlich angetrieben, gleichsam wie an einem Wettkampf. Stimmt das? Eine breit angelegte Studie aus Deutschland, in der Schüler quer durch alle Stufen befragt wurden, bestätigt dies. Obwohl die Fragestellung («Ich bin für eine Schule ohne Zensuren») gerade dazu einlud, stellte nur eine kleine Minderheit das Notensystem als solches in Frage. Als die schärfsten Verfechter taten sich die Schüler (76%) hervor, gefolgt von den Eltern (74%) und Lehrpersonen (64%).  «Klar haben gute Schüler gerne gute Noten», so Brigitte Koch, Mittelstufenlehrerin und Präsidentin des Lehrerinnen und Lehrervereins Appenzell Ausserrhoden. «Aber was bringt es einem leistungsschwachen Kind, ständig verglichen zu werden?» Schon Heinrich Pestalozzi, vor über 260 Jahren geboren, forderte: «Vergleich nie ein Kind mit dem anderen, sondern nur jedes mit ihm selbst.»

 

Die SVP des Kantons Zug begründet das von ihr per Verfassungsinitiative geforderte Notenobligatorium ab der 1. Klasse mit dem «Missstand», dass «Schulabgänger nicht einmal einen Brief schreiben können.» Damit gibt sie vor, dem festgestellten Misstand durch ein frühes Notenzeugnis beizukommen. Die Siegerländer der Pisastudie wie etwa Finnland und Schweden sind jedoch alles Nationen, welche die Leistungen von Schülerinnen und Schüler bis zur 8. Klasse nicht mit Noten bewerten. Trotzdem haben auch Wirtschafts- und Gewerbeverbände viel Sympathie für Schulnoten. Diese seien wichtig und richtig, und zwar gleich zu Beginn der Schulkarriere, damit die Kinder sich daran gewöhnen könnten. Später, am Arbeitsplatz, müssten sich junge Berufsleute schliesslich auch dem Wettbewerb stellen. Doch, mal ehrlich: In welchem Job erhält man vom Chef eine Note? Der Wunsch nach Klarheit kollidiert mit den real existierenden Umständen, die Noten weltfremd aussehen lassen: In keinem Bereich, ausser in der Schule, begegnen sie uns je wieder.

 

Weder ist erwiesen, dass eine Schülerin in ihren Fähigkeiten infolge Aussicht auf (gute) Noten gestärkt wird – noch ist der Nachweis des Gegenteils erbracht. Je nach Charakter und Selbstbewusstsein des Kindes mag eine Note motivierend und anspornend wirken, auf andere einschüchternd oder gar blockierend. Manche Eltern ticken genauso «notengesteuert», schalten Nachhilfeunterricht ein, sobald es die erste «Ungenügende» setzt, konkret also eine 3,9, oder greifen generös zum Portemonnaie ab Testergebnis 5,5. Solche Druck- oder Lockmittel funktionieren aber spätestens in der Pubertät nicht mehr. Und womit wird das Kind belohnt, dass mit einer gewaltigen Anstrengung eine 4 erreicht? In der viel zitierten Laborschule Bielefeld gibt es keine Noten bis zum Ende der 9. Klasse. Noten, so die Begründung der Schulleitung, würden nur einen Wissensstand beurteilen, nicht aber die Anstrengung, die ein Kind erbringe, was letztlich viel wichtiger sei.

Unbestritten ist, dass die alternativen Beurteilungsformen, die das Notenzeugnis ersetzt oder ergänzt haben, im Laufe der Jahre immer vielfältiger wurden und in der Umsetzung ungemein viel Zeit beanspruchen. Lehrer schreiben Lernberichte, Verbalgutachten, Standortbestimmungen und Lernstanderfassung, erstellen Beurteilungsgradmesser, Kompetenzraster und füllen seitenweise Beobachtungsbögen aus. Nicht selten benutzen die Lehrer dafür allerdings Textbausteine und standardisieren ihre Aussagen damit ähnlich, wie eine Ziffer dies tut. Omnipräsent sind in der Unterstufe seit längerem die so genannten Smylies, die für Bestleistungen verteilt werden, oder eben Cryies, weinende Gesichter. Richtig kompliziert wird es in der Oberstufe, wo es zuweilen zu unterscheiden gibt zwischen Niveau A, B, C. Eine Note 5 im Niveau A gilt somit als besser, als eine Note 5 in den unteren Niveaus B und C – und umgekehrt.

 

Tatsächlich braucht man kein Noten-Hardliner zu sein, um auch die Vorteile von Schulnoten anerkennen zu können. Einer davon ist die  praktische Durchführbarkeit, die allgemeine Verständlichkeit  und die Tatsache, dass sie Ausgangspunkt für ein konstruktives Beurteilungsgespräch zwischen Lehrer, Schüler und Eltern sein können. Zudem können sich manche Kinder und Jugendliche  von einer nackten Zahl besser distanzieren, als von einem  - ihnen allenfalls nicht genehmen – Kommentar, der sie als lernendes Individuum detailliert analysiert, kritisiert oder sogar psychologisiert und «ganzheitlich» erfasst. 

 

Nüchtern betrachtet, und nicht – wie in Appenzell, Genf oder  Zug – um die Gunst politischer Wählerstimmen kämpfend, muss man wohl sagen: am Ende kommt es gar nicht so drauf an, ob die Notengebung in der ersten Klasse einsetzt, in der zweiten, dritten oder vierten. Denn für einen Erstklässler ist ein heulendes Gesicht eine mindestens so traurige Angelegenheit, wie eine schlechte Note. So erklärt sich die Niedergeschlagenheit eines 7-Jährigen, der von der Schule nach Hause kommt, einen Test aus der Mappe zieht und unter Tränen berichtet: «Mein Smiley weint.»


Interview mit Winfried Kronig, Professor an der Universität Freiburg. Er hat empirische Studien zu Fragen des Bildungserfolgs und zur Leistungsselektion publiziert.

 

Die Sache mit den Noten ist eigentlich ganz einfach: So lange sie gut sind, hat niemand etwas dagegen einzuwenden. Kritisch hinterfragt werden Noten von Schülern und Eltern doch erst, wenn sie ungenügend sind.
Das mag im Alltag sicherlich so empfunden werden. Dennoch belegen Studien seit Jahrzehnten immer wieder, dass Noten – egal ob gut oder schlecht – nur scheinbar präzise sind und nicht so zuverlässig, wie man es gerne glauben würde. Insofern könnten alle Noten kritisch hinterfragt werden.

 

Kann es sein, dass ein Schüler eine sechs in Mathematik hat, aber seine Leistung in dem Fach gar nicht so toll ist?
Ja, denn anhand einer Sechs lässt sich nicht ablesen, wie gut ein Schüler im absoluten Sinne ist. Die Note sagt allenfalls etwas darüber aus, wie ein Kind innerhalb seines Klassenverbandes, also im Vergleich zu den anderen, dasteht.

 

Können Sie dies anhand eines Beispiels erklären?
Schulklassen unterscheiden sich erheblich in ihrem Leistungsspektrum. Es kann vorkommen, dass der schlechteste Schüler einer Klasse zu den besten gehören würde, wenn er in einer anderen Klasse sässe. In einer unserer Studien erhielten Schüler eine 3.5 als Durchschnittsnote, während beinahe gleich gute Schüler in anderen Klassen eine 5.5 bekamen. In einem schwachen Klassenverband ist es einfacher, eine gute Note zu erzielen, als in einer leistungsstarken Klasse.

 

Wenn dem so ist, müssten ja ambitionierte Eltern geradezu darauf drängen, dass ihr Kind in einer leistungsschwachen Klasse  eingeschult wird.
Es kommt darauf, was man will: dass das Kind etwas lernt, oder dass es gute Noten bekommt. In einer Klasse, in der das Niveau hoch ist, lernt ein Kind tendenziell mehr, bekommt dafür aber trotzdem die schlechteren Noten.

 

Orientieren sich die Noten denn nicht primär nach den Lernzielen? Wenn ein Schüler das gesetzte Ziel nicht erreicht – beispielsweise das Beherrschen des 1x1 – wäre es doch logisch, ihm in diesem Fach einfach eine Ungenügende Note zu erteilen; unabhängig davon, wie schwach, oder stark die anderen Kinder in der Klasse sind.
Die Lehrperson einer sehr leistungsschwachen Klasse käme auf diese Weise aber in ein Dilemma. Denn sie kann schwerlich ihrem besten Schüler eine tiefe Durchschnittsbewertung geben.

 

Doch, dass kann sie wohl.
Dann würde es vermutlich sofort heissen, diese Lehrerin mache zu schwierige Prüfungen oder gestalte den Unterricht nicht so, dass die Schüler fit für die Prüfung sind.

 

Manchmal hat man den Eindruck, beim Verzicht auf Noten gehe es vorab darum, schlechte Schüler vor schlechten Noten zu bewahren. Umgekehrt beraubt man mit dem Verzicht auf Noten die guten Schüler der Freude über einen glatten Sechser. Ist das nicht unfair?
Wie gesagt, es geht nicht um gute oder schlechte Noten, sondern darum, dass Noten ganz generell bis zu einem nicht mehr vertretbaren Masse unpräzise sind. Dennoch werden an Schweizer Volksschulen jährlich etwa 6,5 Millionen Noten vergeben. Es gibt eine ganze Reihe von gut untersuchten Einflüssen, die eine Note verfälschen können. Für gleiche Leistungen gibt es nicht immer die gleichen Noten.

 

Heutzutage opfern Lehrer fürs Beurteilen einen grossen Teil Ihrer Arbeitszeit. Zeit, die Ihnen dann für Ihre Kernaufgabe, das Unterrichten,  fehlt. Keine besonders erfreuliche Entwicklung.
Als die Suche nach Alternativen zum klassischen Notenzeugnis losging, wurde der Zeitaspekt möglicherweise zu wenig berücksichtigt. Lernberichte sind pädagogisch, etwa für die Planung der weiteren Förderung, durchaus sinnvoll. Zu Selektionszwecken hingegen halte ich sie für völlig ungeeignet. Sie sind auch nicht präziser als Noten und man würde den Bildungserfolg des Kindes von der Ausdrucksfähigkeit seiner Lehrperson abhängig machen. Da finden sich manchmal Formulierungen, die viel stigmatisierender sind, als eine schlechte Note.

 

Die SVP will nichts wissen von der notenfreien Schule und fordert mittels Initiativen wieder Noten ab der 1. Klasse.
Die notenfreie Schule gibt es in der Schweiz gar nicht! Im Gegenteil: Es findet ein Beurteilungskult statt, wie es ihn vermutlich nie zuvor gegeben hat. 

 

Heisst dass, dass Sie mit den Beurteilungsinstrumenten, die im Laufe der letzten Jahre kreiert wurden, nicht glücklich sind?
Ob Noten, Buchstaben, Punkte, Smylies oder Kreuzchen, wie etwa hier in Fribourg: im Grunde genommen ist das nur Kosmetik und ändert nichts am Grundproblem, dass diese Wertungen für Leute ausserhalb des Schulsystems kaum interpretierbar sind.

 

Der aktuelle Mister Schweiz Jan Bühlmann, hat es vom Realschüler zum Maturanden geschafft hat. Seine schlechten Noten, sagte in einem Interview, hätten ihn nicht beeindruckt, bis zum Zeitpunkt, wo er realisierte, dass seine Berufswahl mit dem Realabschluss massiv eingeschränkt sei. Ihr Kommentar?
Ohne den Mister Schweiz persönlich zu kennen, zeigt diese Lernbiografie, dass ein als von unserem Bildungssystem als «schlechter Schüler» qualifizierter Jugendlicher im Stande sein kann, eine Matura zu machen. Ich bin unsicher, ob das tatsächlich nur mit seinen zu Beginn fehlenden Ambitionen zu tun hatte. Unser System hat im konkreten Fall nicht erkennen können, welches Leistungspotential in Jan Bühlmann steckt. Und das geschieht eben leider öfter als man annimmt. Nicht immer werden negative Selektionsentscheidungen später mit nachträglichem Bildungsaufwand ausgeglichen. Mit dem prognostizierenden Zweck der Note verhält es sich wie mit dem Wetter: Je früher die Prognose gemacht wird, umso grösser die Wahrscheinlichkeit, dass man daneben liegt.