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NZZ am Sonntag

ZUSAMMENARBEIT

Martin Guggisberg (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.7.2007

WAS, WENN ER WIEDER TäTLICH WIRD?

 

Ein Vater missbraucht seine Tochter, bis sie im Alter von 13 Jahren von ihm schwanger wird. Seine Frau hat ihm vergeben, doch die alten Nachbarn nicht.

 

Wer die Familiensiedlung Fuchsloch im zugerischen Oberwil vom Garten her betritt, empfängt die Wünsche der barmherzigen Brüder von Maria Hilf, Gründer des gleichnamigen Ordens und Besitzer des wunderschönen Fleckens Land am See. «Erbittet allen, die hier wohnen, Schutz und Segen», lautet die Inschrift aus Stein. Doch davon ist hier derzeit wenig zu spüren. Die Bewohnerinnen und Bewohner der 97 preisgünstigen Mietwohnungen sind beunruhigt.


Ende August soll ein langjähriger Nachbar aus der Haft entlassen werden: Mladen P.*, 45 Jahre alt. Der vom Balkan stammende Mann hat zu Hause jahrelang seine Tochter Elira missbraucht, bis diese schwanger wurde und im Alter von 13 Jahren per Kaiserschnitt einen Knaben zur Welt brachte. Das Zuger Strafgericht verurteilte Mladen im März 2006 wegen sexueller Handlungen mit Kindern, Vergewaltigung und Inzests zu viereinhalb Jahren Zuchthaus. Wegen guter Führung kann er das Gefängnis voraussichtlich vorzeitig verlassen. Ein Leben in Freiheit erwartet ihn - theoretisch.


Der Mann, finden die Leute in der Siedlung, sei hier nicht mehr tragbar. Namentlich lässt sich niemand zitieren, schliesslich ist man tolerant und möchte nicht als Ausländerhasser dastehen. Doch die Fragen werden laut gestellt: «Was, wenn er wiederum tätlich wird und sich an einem Kind in der Überbauung vergreift?», sagt eine Mutter von zwei kleinen Kindern. «Wenn er das bei der Tochter macht, liegt die Hemmschwelle bei fremden Kindern sicher noch tiefer», ist eine andere überzeugt. Man müsse sich das vorstellen: Die Frau von Mladen P. habe sich nicht einmal scheiden lassen. Sie ziehe sogar noch den Knaben auf, den er der eigenen Tochter gemacht habe. In der Überbauung leben über 170 Kinder und Jugendliche. «Die können wir nicht ständig überwachen», meint ein Familienvater und zeigt auf den Spielplatz, wo ein Dutzend Kinder sich beim Velofahren und Schaukeln vergnügt. Im Sommer 2008 wird der Bub voraussichtlich den Kindergarten in der Siedlung besuchen. «Ich bin schon gespannt, wer da zum Elternabend kommt», erzählt eine Frau, die eine Tochter im gleichen Alter hat.


Im Fuchsloch, einem preisgekrönten Bau, herrscht eine offene Atmosphäre. Man hilft sich aus und hütet einander die Kinder. Kein Mensch sitzt hier unbemerkt auf seinem Balkon. Man grüsst sich beim Vornamen, organisiert Flohmärkte und Feste, grilliert bei warmem Wetter im Garten. Der soziale Kontakt ist intensiv, die soziale Kontrolle auch. Das war schon immer so. Einen Vorgeschmack auf das Leben danach hat Mladen P. schon bekommen, als er während des Hafturlaubs zu Hause war: Achtung, hiess es hinter vorgehaltener Hand, der Kinderschänder. Sehr wohl registrierten die Nachbarn, als Tochter Vesna, hübsch und zierlich, von Tag zu Tag runder wurde. Doch gedacht hat man sich nichts dabei, jedenfalls nichts Schlimmes. Ein paar Pfunde zu viel, das gehört zur Pubertät. Irgendwann sei das Mädchen einfach nicht mehr da gewesen.

 

Als die Familie P. plötzlich ein Baby betreute, hakten die Nachbarinnen nach. Woher denn plötzlich der Säugling käme. «Ich bin die Tagesmutter», erklärte Vesnas Mutter. 24 Stunden lang? Erst später, als Mladen P. verhaftet wurde, flogen die Lügengeschichten auf, jeder wusste, was geschehen war: dass Vesna bis zum siebten Schwangerschaftsmonat vom Vater vergewaltigt wurde. Dass sie plötzlich nicht mehr zur Schule ging. Dass sie zuerst einen Schwangerschaftstest verweigerte und den Vaterschaftstest nur unter Druck der Vormundschaftsbehörde machte. Dass sie erst den Missbrauch leugnete und sich dann das Leben nehmen wollte. Dass sie seither in Zürich lebt, dort eine Ausbildung macht. Dass sie ihren Vater nie mehr sehen möchte, aber ihr Kind.


Ein psychiatrisches Gutachten attestiert Mladen P. eine mittelgradige bis hohe Rückfallgefahr, ähnliche Sexualdelikte zu begehen. Die Therapierbarkeit wird als nicht optimal eingestuft, zumal der Mann wohl gar nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfüge, die Tragweite der Tat zu erkennen. Von «Bagatellisierungstendenz» ist im Gutachten die Rede, von einer «Störung der Sexualpräferenzen». Die Psychotherapeutin, bei der Mladen P. seit einem Jahr in Behandlung ist, zeichnet ebenfalls ein wenig günstiges Bild: Die Aufarbeitung der Delikte sei «nicht weit fortgeschritten». Dennoch: Als Pädophilen, der sich generell an wildfremden Kindern vergeht, stuft keiner der Experten Mladen P. ein.


Von einer «äusserst delikaten Angelegenheit» spricht die zuständige Liegenschaftsverwalterin und bestätigt im Hinblick auf Mladen P.s Entlassung entsprechende Beschwerden. Eine Partei habe explizit den Rausschmiss der Familie gefordert, und zwar sofort, weil der Mann «eine Gefahr für die Umgebung» darstelle. Doch eine Kündigung sei aufgrund des Mieterschutzes praktisch aussichtslos. Schliesslich gehe es nicht nur um den Mann, sondern um die ganze Familie, die sich nichts habe zuschulden kommen lassen, seit zwölf Jahren hier lebe und gut integriert sei. «Der Mann hat im Sommer seine Strafe abgesessen», sagt die Verwalterin. «Ob das den Leuten passt oder nicht.» Eine Kündigung komme nicht in Frage. Weil sie jedoch auch die Ängste der Nachbarn ernst nehmen müsse, habe sie der Familie nahegelegt, sich selber anderswo eine Wohnung zu suchen, «im eigenen Interesse».


Das Kantonale Amt für Ausländerfragen geht da zielstrebiger voran und hat dieser Tage entschieden, dass Mladen P., ausgewiesen wird. Der Mann habe derart schwerwiegend gegen die geltende Rechtsordnung verstossen, dass eine Ausweisung angemessen erscheine, und dies, obwohl der Verurteilte schon seit 21 Jahren in der Schweiz weile. «Es besteht eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung», heisst es in dem Schreiben. Das behördliche Verdikt kommt insofern überraschend, als das Gericht im Strafurteil vor einem Jahr die zehnjährige Landesverweisung nur bedingt ausgesprochen hat. Der Anwalt von Mladen P. hat darum gegen die Ausschaffungsverfügung Beschwerde beim Regierungsrat erhoben. Es gehe nicht an, dass eine Behörde einfach eine Ausweisung verfüge, ohne die Betroffenen - die Ehefrau und die beiden erwachsenen Söhne des Verurteilten - direkt zur Sache befragt zu haben. Genau dies aber sei im vorliegenden Falle passiert. Der Rechtsvertreter ist überzeugt: Die örtliche Trennung von Vater und Tochter, eine unheilvolle Begegnung zwischen Täter und Opfer, sei nach der Haft auch anders als durch die Ausschaffung zu gewährleisten: durch einen Wegzug des Mannes an einen anderen Wohnort.


Dass die Zuger Behörden Mladen P. loswerden möchten, dürfte noch einen anderen Grund haben. Der Mann fällt dem Kanton und der Gemeinde Zug finanziell zur Last. Ist es doch der Staat, der bis jetzt für den gesamten Schadenersatz und die Genugtuung an das Opfer (219 000 Franken) sowie die Verfahrenskosten (31 000 Franken) aufgekommen ist. Zählt man die Gelder des Sozialamtes dazu, von dem die Familie P. seit Jahren unterstützt wird, beläuft sich die Summe auf über 300 000 Franken. Überdies gewichtet die zuständige Vormundschaftsbehörde das Wohlbefinden der Tochter höher, die laut ihrem Beistand den Kontakt zum Vater - aus nachvollziehbaren Gründen - total ablehnt, hingegen das Verhältnis zu ihrem mittlerweile vierjährigen Sohn intensivieren möchte. Bisher wächst der Knabe im Glauben auf, dass das Ehepaar P. seine Eltern sind und dass Vesna seine Schwester ist.


In zehn Jahren ist er vierzehn Jahre alt. Er wird aufgrund der Geburtsurkunde erfahren, wer seine leiblichen Eltern sind. Er wird ausrechnen, dass der Altersunterschied zwischen ihm und seiner Mutter dreizehn Jahre beträgt, und er wird wissen wollen, wie so etwas möglich ist. Das Tragische an dieser Geschichte versiegt, wie immer die Behörden entscheiden, nie.
*Alle Name geändert