WER NICHT TRäUMT, STEHT STILL
Ein Kamelritt durch die Wüste? Ferien auf dem Kreuzfahrtschiff oder ein Treffen mit Skistar Marco Odermatt? Warum Träumen wichtig ist und glücklich macht, auch wenn nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen.
Einmal im Leben mit dem Helikopter fliegen, das wär’s! Warten, bis das imposante Gefährt am Boden landet, dem Rattern der Propeller lauschen, einsteigen, anschnallen, Gehörschutz-Headset montieren und dann senkrecht Richtung Himmel entschwinden – die Alpen überfliegen, Berggipfel aus nächster Nähe betrachten und die Welt aus der Vogelperspektive bestaunen.
Immer wieder habe ich diesen Wunsch im Freundeskreis geäußert, sobald man bei einem Nachtessen spontan auf das Thema «Träume» zu sprechen kam. Doch irgendwann hörte ich auf, vom Helikopterflug zu schwärmen. Ich befürchtete, dass jemand tatsächlich auf die Idee kommen könnte, mir diesen Traum erfüllen zu wollen, zum 40. Geburtstag etwa oder zum 50. Wäre das nicht schade? Dann wäre mein Traum verflogen, hätte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Ein neuer Traum müsste her: eine Safari? Ein Tripp in den Dschungel? Eine Reise mit dem Kreuzfahrtschiff? Ein Kamelritt durch die Wüste?
Das Beispiel zeigt, wie wichtig Träume sind. Auch wenn sie unerfüllt bleiben: Sie erlauben uns, zu schwärmen, sind ein Zeichen von Lebensfreude und ermöglichen uns, Fantasien im Kopf zu leben. Träume können motivieren und ein Ansporn sein. Träume sagen aber auch viel über die Lebenswelt einer Person aus. Warum möchte ich in einen Helikopter steigen und warum nicht als Beifahrerin an einem Formel-1-Rennen dabei sein? Die Antwort liegt auf der Hand: Weitsicht und Höhe sagen mir mehr zu als der Nervenkitzel und Temporausch in einem schnellen, lauten Auto.
Wovon träumen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung oder einer Hirnverletzung? Von einem hindernis- oder barrierefreien Leben? Von einer eigenen Wohnung? Von einem Treffen mit Marco Odermatt, einem Konzert von Helene Fischer, von mehr Selbstbestimmung und Teilhabe, Verständnis und Akzeptanz in der Gesellschaft? Oder träumen sie von einem Leben ohne Beeinträchtigung und Behinderung?
Die Träume und Wünsche der andante-Klienten und -Mitarbeitenden sind so individuell wie die einzelnen Biografien. Auch sind Träume vom Alter abhängig. Meine ich das nur, oder hatte ich als Kind tatsächlich mehr Träume? Da träumte ich noch von einem Haus am See mit Garten … Diesen Traum habe ich schon längst abgeschrieben. In meiner Wohnung mit Balkon ist es auch gemütlich!
Lebe deine Träume – das ist einfacher gesagt als getan. Gerade für Menschen mit Beeinträchtigung. Manche Träume materieller Natur scheitern schon an den hohen Kosten oder an den Rahmenbedingungen. Viele andante-Klienten können sich ihre Wünsche und Träume, auch wenn sie bescheiden sind, nämlich nicht ohne Weiteres erfüllen. Sie sind auf ein offenes Ohr, Unterstützung, Begleitung angewiesen: Und die meisten andante-Klienten verdienen so wenig Geld, dass sie beispielsweise nicht einen grösseren Betrag ansparen können, um sich selbst einen Traum zu erfüllen. Hinzu kommt, dass die IV-Leistungen knapp bemessen sind. Schon für Veranstaltungen, Freizeitaktivitäten und Ferien fehlt oft das Geld und ist man auf Spenden angewiesen. Von einem Helikopterflug kann man da nur träumen.
Soll man die Träume von Menschen mit kognitiver, körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung darum ignorieren? Keineswegs! Gerade weil sie im Alltag viele Einschränkungen erleben, ist es wichtig, dass auch sie ihre Träume thematisieren und artikulieren und dass wir als Gesellschaft diese Träume ernst nehmen. Wer weiss: Vielleicht lässt sich der eine oder andere Wunsch tatsächlich erfüllen oder es gibt allenfalls eine Alternative, die dem Herzenswunsch nahekommt. Unabhängig in einer eigenen Wohnung zu leben, ist aufgrund mangelnder Ressourcen nicht immer möglich, aber es gibt bestimmt andere Wege, einer Klientin oder einem Klienten mehr Freiheiten zu gewähren. Kreativität ist gefragt!
Wichtig ist, dass man seine Träume nicht aus den Augen verliert. Denn Träumen heißt in sich hineinhorchen und herausfinden, was uns glücklich macht und zufrieden nach vorne schauen lässt. Wer nicht träumt, steht still. Und allein schon gemeinsam zu träumen und Seifenblasen aufsteigen zu lassen, kann Spaß machen.