PUBLIKATION

Magazin Andante

ZUSAMMENARBEIT

Severin Jakob (Foto)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.11.2023

UNTERWEGS MIT DEM BUS NR. 826

 

Andrina Veraguth ist in der Freizeit sehr aktiv und treibt regelmässig Sport. Die wöchentliche Turnstunde in Frauenfeld ist ihr Highlight. Den Weg dorthin legt sie alleine mit dem Postauto zurück.

 

Kurz vor dem Mittagessen – auf dem Menüplan stehen Fleischkäse und Kartoffelsalat – nimmt sich Andrina Zeit, um im Interview über ihre Freizeit zu sprechen. Die 20-Jährige wohnt mit sechs anderen andante-Klienten in einem gemütlichen Altbau mitten in einem idyllischen Quartier in Steckborn, an der Morgenstrasse 5. Eingezogen ist sie vor drei Jahren, nachdem sie zuvor in Frauenfeld die heilpädagogische Schule besuchte und bei ihren Eltern in Sirnach wohnte. Der Umzug ins andante-Haus war eine grosse Umstellung für Andrina. Nicht nur ein neues Zimmer wurde bezogen. Alles war neu: die Wohnfamilie, die Umgebung, das Betreuungsteam, der Tagesablauf.

 

Etwas nervös nimmt Andrina im Wohnzimmer Platz. Sie ist froh, dass ihre Bezugsperson Annina dabei ist. Denn einer fremden Journalistin alleine für ein Interview Red und Antwort zu stehen, würde ihr schwerfallen. Die Kommunikation und Artikulation ist für die grossgewachsene Frau mit dem voluminösen Rossschwanz eine Herausforderung, was nicht heisst, dass Andrina nicht offen für Begegnungen wäre. Andrina sei sogar eine ausgesprochene Frohnatur und ein Mensch mit vielen Interessen, berichtet Annina. In ihrer Freizeit fährt Andrina Velo, puzzelt, malt, singt und tanzt. Für ihr geliebtes Hobby, die wöchentliche Turnstunde bei «Plussport Thurgau» in Frauenfeld – ein Angebot für beeinträchtigte Menschen – muss Andrina jedoch das Postauto nehmen. Am Anfang wurde sie dabei von einer andante-Mitarbeiterin begleitet, hat so Strecke, Haltestellen und Buschauffeure kennengelernt. Doch mittlerweile schafft Andrina die gut 23-minütige Strecke mit der Linie 826 alleine; ein grosser Schritt – ein Meilenstein, auf den Andrina stolz ist.

 

Sollte unterwegs wider Erwarten ein Problem auftauchen oder Andrina mit einer Situation konfrontiert sein, die sie verunsichert, kann sie Passanten, die ihr helfen möchten, ein perforiertes Textschild zeigen, das sie gut sichtbar um den Hals trägt. Dort steht ihr Name drauf und dass sie unterwegs zur Turnstunde nach Frauenfeld bzw. auf dem Heimweg nach Steckborn ist und man entweder mit andante oder Andrinas Eltern telefonisch Kontakt aufnehmen soll, um das weitere Vorgehen zu besprechen. «Zum Glück ist Andrina aber noch nie verlorengegangen und immer heil am Ziel angekommen», berichtet Annina. Oftmals würden auch noch andere andante-Klienten, die Andrina kennt, ins Postauto steigen. Sie helfen sich gegenseitig, wenn nötig. Das Textschild ist dennoch unentbehrlich. Es gibt Andrina Sicherheit, vermittelt auch ihren Eltern und nicht zuletzt andante ein gutes Gefühl. «Wir von andante wollen unseren Klientinnen und Klienten etwas zutrauen, sie in ihrer Selbständigkeit fördern, doch gleichzeitig stehen wir auch in der Verantwortung, dass nichts passiert», erklärt Annina.

 

Dass diese Strategie funktioniert, zeigt sich auch an der Entwicklung von Andrina, die sich nach drei Jahren im andante-Wohnheim bestens eingelebt hat und gut in die Gruppe integriert ist. Immer wieder will sie demonstrieren, was sie alles selbständig bewältigen kann. Motiviert arbeitet sie in der hauseigenen Gärtnerei oder in der Weberei und hilft dort bei der Herstellung von qualitativ hochwertigen Produkten. Die Tätigkeiten strukturieren ihren Tag und stärken ihr Selbstvertrauen. Gerne marschiert sie auch – mit ein wenig Bargeld ausgerüstet – zur Migros und besorgt dort kleinere Kommissionen: eine Tüte Chips, Schokolade, ein Duschmittel oder ein Shampoo. In den Läden, aber auch sonst im Dorf, kennt man Andrina. Steckborn ist überschaubar, die Bevölkerung aufgeschlossen; ein riesiger Standortvorteil für die andante-Bewohnerinnen. Integration findet im Alltag statt.

 

Als Mensch mit grossem Bewegungsdrang fällt es Andrina nach dem gut halbstündigen Gespräch nun aber schwer, noch länger ruhig am Tisch sitzen zu bleiben. Sie möchte jetzt wieder in die Wohngruppe und erfahren, ob das Mittagessen schon parat ist. Andrina packt ihren Buspass und das perforierte Textschild ein, das sie der Journalistin präsentiert hat. Nächsten Mittwoch macht sie sich wieder auf den Weg zur Turnstunde nach Frauenfeld – dem Highlight der Woche. Jetzt gibt es Zmittag: Kartoffelsalat mit Fleischkäse.