PUBLIKATION

NZZ am Sonntag
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

14.11.2004

«ICH HATTE SCHISS VOR SCHARMüTZELN»

 

Der Liedermacher Tinu Heiniger kämpfte mit seiner unverblümten Sprache schon früh für die Ideale der Achtundsechziger. Heute gibt er sich versöhnlicher. Und zugleich kritischer denn je.

 

NZZ am Sonntag: Stimmt es, Tinu Heiniger, dass Sie am 8. Mai 1945, am Tag des offiziellen Kriegsendes, gezeugt wurden?
Ja, meine Mutter hat mir das erzählt, und die wird es wohl wissen. An diesem Freudentag, als alle Kirchenglocken läuteten, strömte auch in Langnau das ganze Dorf auf den Bärenplatz und feierte. Meine Eltern sind dann in ihrem Glück über den Frieden nach Hause getanzt und haben sich weiter gefreut.


Sie sind ein Kind des Friedens?
Genau. Die historische Konstellation im Moment der Zeugung prägt einen Menschen ebenso wie die astrologische. Von meinem spirituellen Lehrer in Dänemark, Bob Moore, weiss ich, dass die zum Zeitpunkt der Zeugung herrschende Stimmung zentral ist für das ganze spätere Leben.


Sie strahlen auch auf der Foto wie ein Maienkäfer.
Hier bin ich in der fünften Klasse und sitze als Dritter von links in der drittvordersten Reihe. Neben mir sitzt das Badertscher Vreni. Sie wohnte in der gleichen Strasse wie ich.


Waren die Mädchen aus dem Emmental so schön, wie man sagt?
Die Emmentaler Mädchen galten in den Volksliedern als stämmig und gut genährt. Man sagte, sie gäben die besten Bäuerinnen.


Aber Sie haben sich schon mal in eine Emmentalerin verliebt?
In verschiedene. An den Samstagen gab es in Langnau, Signau oder Trubschachen immer irgendwo ein Turn- oder Schützenfest. Auch wir Teenager gingen dort hin, zur Brautschau.


Weniger Spass machte Ihnen die Ausbildung zum Möbelschreiner.
Die Stifti war hart. Aber es kam nichts anderes in Frage, da meine Eltern selber eine Schreinerei hatten und mich früh als Nachfolger bestimmten. Nach der Lehre in Bern zog ich nach Genf und arbeitete in einer Möbelfabrik für 4.40 Franken pro Stunde. Ich verrichtete eine monotone Arbeit, hatte Zeit zum Nachdenken. Ich realisierte: Das ist nicht mein Ding.


Ihre Leidenschaft galt der Musik?
Der Musik und der Schauspielerei, aber das konnte ich meinen Eltern unmöglich als Berufswunsch vorschlagen. Ein Freund erzählte mir dann, dass man im Lehrerseminar Langenthal grossen Wert auf die musischen Fächer und den Sport legte. Aus diesem Grund liess ich mich dort zum Primarlehrer ausbilden. Während fünf Jahren unterrichtete ich an Landschulen, was mir gefiel. Gleichzeitig spielte ich in einer Jazzband und trat mit meinem Freund als Duo «Tinu und Pudi» auf. Wir waren ein singendes Clownpaar und spielten Klarinette, Trompete und Ukulele.


Und wann schrieben Sie Ihr erstes Lied?
Mit 25 Jahren, als bei mir die grosse Liebe einfuhr. Leider war die Frau schon verheiratet und blieb es.


Aber der Liebesschmerz spornte Sie zum Schreiben an.
Er war Auslöser und Antrieb. Dabei entschied ich mich bewusst fürs Hochdeutsche, um mich von Mani Matter abzugrenzen, den ich sehr bewunderte. Meine Vorbilder suchte ich in Deutschland: Reinhard Mey, Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt. Letztere beiden beeindruckten mich, weil sie politisch Stellung bezogen.


Ihre eigenen Lieder waren aber damals noch nicht politisch.
Politisch erwacht bin ich erst später, als ich Mitte der siebziger Jahre intensiven Kontakt zu einer Wohngemeinschaft hatte. Dieses Stöckli in Utzenstorf war ein geistiges Zentrum für die Ideen der 68er Generation. Wir lasen den «Vorwärts», die Zeitung der Partei der Arbeit Schweiz, hinterfragten Machtverhältnisse und suchten Alternativen zum kapitalistischen System. Weil ich mich politisch engagieren wollte, trat ich später der SP Burgdorf bei, aber nur für kurze Zeit, denn ich war schnell enttäuscht. Der dominante Gewerkschaftsflügel wollte einfach mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten für die Arbeitnehmer. Das war mir damals zu wenig radikal.


Ihre erste Platte von 1976 erhielt den Titel «Es schysst mi a». Bezog sich das auf Ihre generelle Gemütslage?
Ich verzichtete auf Filter in meinen Formulierungen. Das Lied «Es schysst mi a» schrieb ich für Automaler, die ich an der Gewerbeschule unterrichtete. Diese Lehrlinge spritzen oft ohne Masken Autos und hatten wenig Anerkennung für ihre Arbeit. Ich sang ihnen mein Lied auch im Deutsch- und Staatskundeunterricht vor.


Sie lehrten Staatskunde?
Ja, ich habe mich ja immer dafür interessiert, wie der Staat funktioniert.


Gab das keine Probleme, ein Kommunisten-Sympathisant als Staatskundelehrer?
Meine politischen Ansichten waren Thema bei den Behörden. Sie hielten ein Auge auf mich, denn ich ging an Demonstrationen gegen Atomkraftwerke. Aber gewalttätig war ich nie. Ich hatte Schiss vor Scharmützeln mit der Polizei.


War Ihnen die Teilzeitstelle wichtig?
Ich war Familienvater, der Lehrberuf gab mir Sicherheit. Doch 1990 hatte ich eine einschneidende Begegnung. An einem Fest, an dem der junge Büne Huber seinen Abschied als Heimerzieher gab, fragte ich ihn: Und was machst du jetzt? Er sagte, er setze auf die Musik. Da wusste ich: Wenn ich es jetzt nicht auch so mache, mache ich es nie. Seither habe ich Schulhäuser nur noch von aussen gesehen.


Und bis heute dreizehn Platten aufgenommen.
Gute und weniger gute. Inhaltlich haben sich meine Lieder gewandelt. Die Themen kommen mehr aus meiner Innenwelt: Liebe, Abschied, Tod.


Sind Sie der Altersmilde verfallen? Ihr neues Album heisst «Am See». Darauf besingen Sie Sterne und Tannen.
Ich bin versöhnlicher geworden. Aber auch selbstkritischer und kritischer den linken Kreisen gegenüber, welche ihre Gesellschaftsentwürfe nach wie vor lauthals in die Welt hinausposaunen und dabei selber zum Teil stockkonservativ und bieder sind.


Das Cover der neuen CD ziert ein Gemälde von Ferdinand Hodler. Sie ehren Übervater Matter und erinnern an Ihre verstorbene Mutter. Schauen Sie lieber zurück als nach vorne?
Hodler und Matter repräsentieren alte Werte, an die ich in einer sich rasant entwickelnden Welt gerne erinnere. Und meine Mutter, die vor drei Jahren starb und nach der ich mich jetzt noch manchmal zutiefst sehne, nimmt auf dem Album einen wichtigen Platz ein. Die Musik aber ist nicht gestrig, bitte sehr. Sie kommt verspielt daher und wird von einer optimistischen Stimmung getragen.


Die Handschrift des musikalischen Abenteurers und Ihres Busenfreunds Stephan Eicher ist gut erkennbar.
Sein Verdienst am Gelingen des aktuellen Albums ist gross. Er hat mir etwa die modernsten Aufnahmeverfahren näher gebracht und digitale Töne schmackhaft gemacht.


Sie produzierten zum zweiten Mal mit Eicher ein Album. Harmonieren Sie gut?
Ein Vorteil unserer Männerfreundschaft besteht jedoch darin, dass wir trotz Auseinandersetzung am Ende wieder zueinander finden. Im Januar 2003 ging ich mit den rhythmisch, harmonisch und textlich erstellten Entwürfen zu ihm. Die Lieder waren noch nackt. Eicher kleidete sie in den Studios in Paris und Brüssel mit seinen Computersounds ein. Einem Sommersong verpasste er ein seidenes Halstuch, einem Wintersong einen wolligen Mantel.


In den Texten kommen Sie wieder ganz ohne sprachlichen Filter aus.
Sie sprechen den Ausdruck «privi Hode» an? Das sagt man bei uns, es heisst so viel wie «primitiver Sack».


Ihre saloppe Ausdrucksweise provozierte schon ein gerichtliches Nachspiel.
Ende der siebziger Jahre gab es eine Klage vom Trio Eugster, deren geisttötende Musik ich im Lied «Unterhaltungs-Brunz» besang. Der «Blick»- Aushang mit dem Titel «Sänger beleidigt Trio Eugster» bescherte mir einen gewaltigen Popularitätsschub.


Die Ostschweizer Boy-Group war aber viel erfolgreicher als Sie und verkaufte rund 1,5 Millionen CDs.
Ja, so viel würde ich auch gerne verkaufen, ich komme auf knapp 100 000. Aber ich habe längst akzeptiert, dass die meisten Leute lieber einen Hamburger vom McDonald's kaufen als ein Entrecôte vom Metzger.


ENDE INTERVIEW


Tinu Heiniger, geboren 1946, wuchs im Emmental auf. Seine Bühnenkarriere startete er als Musikclown und als Klarinettist in einer Jazzband. Seit Erscheinen der ersten Langspielplatte «Es schysst mi a» 1976 begab sich Heiniger auf musikalische Exkursionen und nahm 13 Alben auf mit Texten, die stets einfühlend und poetisch, aber auch verschmitzt und ironisch sind. In Zusammenarbeit mit Stephan Eicher produzierte Heiniger 2002 das erfolgreiche Album «Heimatland» und gewann im Jahr darauf den Liederpreis des Südwestrundfunks für die Ballade «Heimatlos», die während Monaten die Spitzenplätze der SWR-Liederbestenliste belegte. Diese Woche erhielt Heiniger den mit 20 000 Franken dotierten Musikpreis des Kantons Bern. Er sei eine «Institution» und «zentrale Referenzperson» in der Schweizer Musikszene, hiess es in der Laudation Heiniger und sein Orchester sind gegenwärtig mit dem Album «Am See» auf Tournee.