PUBLIKATION

Magazin Andante

ZUSAMMENARBEIT

Severin Jakob (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

15.11.2022

«WIR MüSSEN SICHTBARER WERDEN»

 

Die Winterthurer Stiftung «andante» kümmert sich um Menschen, die nach einem Schlaganfall neu anfangen müssen und Personen, die seit Geburt von einer kognitiven Beeinträchtigung betroffen sind. Stiftungsratspräsidentin Pearl Pedergnana und Geschäftsleiter Thomas Diener über einstige Pioniere und aktuelle Herausforderungen der Stiftung.

 

«Andante» umschreibt in der Musik ein mässiges, ruhiges Tempo. Es ist – um im musikalischen Raum zu verweilen – zwischen adagio (langsam) und allegro (schnell) angesiedelt. Warum heisst Ihre Stiftung so?

 

Thomas Diener: Der Name «andante» passt gut zu uns und unserem Slogan «Schritte im Leben». Das stetige Vorwärtskommen charakterisiert sowohl unsere Angebote als auch die Lebensumstände, in denen sich unsere Klientinnen und Klienten befinden. Manchmal gelingen ihnen kleine, für Aussenstehende kaum wahrnehmbare Schritte, manchmal grosse und entscheidende Schritte, die motivieren und das Selbstbewusstsein stärken. Unser Ziel ist es, sie in diesem Prozess so gut wie möglich zu unterstützen.

 

Pearl Pedergnana: Auch die Stiftung andante hat vor rund zehn Jahren einen wichtigen Schritt gewagt: Der Stiftungsrat entschied, in Winterthur ein Angebot für Menschen mit einer Hirnverletzung aufzubauen. Das Ziel war, Menschen zu unterstützen, die zum Beispiel bei einem Schlaganfall, einer Hirnblutung oder einem Unfall eine Hirnschädigung erlitten hatten und nach der Rehabilitationsphase nicht mehr zu Hause leben konnten.

 

Sie sprechen vom Kompetenzzentrum für Menschen mit Hirnverletzung; im Kanton Zürich ein einzigartiges Angebot.

 

Pearl Pedergnana: Das ist richtig und darauf darf man auch stolz sein. Vermutlich hat man aber damals unterschätzt, wie stark sich diese Menschen von Personen unterscheiden, die schon seit Geburt kognitiv beeinträchtigt sind. Erstere hatten vor der Schädigung ein anderes Leben und wünschen sich, trotz ihrer Beeinträchtigung in ihren Alltag zurückzukehren. Für viele ist es eine grosse Herausforderung, den Schicksalsschlag Hirnverletzung zu akzeptieren.

 

Thomas Diener: Das Abschiednehmen von einem gesunden Leben, vom Beruf, von der Karriere, von sportlichen oder alltäglichen Tätigkeiten, die man problemlos beherrschte, ist hart und ein langer Prozess. Hinzu kommt, dass Menschen mit einer Hirnverletzung oft eine partielle Lähmung oder Wortfindungsstörung erleiden und deswegen von der Gesellschaft falsch eingeschätzt und intellektuell unterschätzt werden.
 

Viele Gehirnfunktionen sind nach einem Schlaganfall wieder trainierbar. Wie aber reagieren hirnverletzte Menschen, wenn sich trotz professioneller Rehabilitation keine grösseren Fortschritte mehr einstellen?


Thomas Diener: Diese Erkenntnis ist schmerzhaft und reisst viele Menschen, mit denen wir arbeiten, in ein Loch. Da kommen Zweifel oder gar Verzweiflung auf und es tauchen schon mal Fragen auf: Wie soll mein Leben weitergehen? Was für einen Sinn macht all dies? Der Umgang mit dem persönlichen Schicksal ist sehr individuell. Früher oder später schöpfen aber die meisten Menschen wieder Hoffnung und finden Kraft, Zufriedenheit oder gar neue Lebensfreude.


Pearl Pedergnana: Im Gespräch mit Klientinnen und Klienten höre ich auch immer wieder, dass es ihnen trotz grossen gesundheitlichen Herausforderungen gut geht, dass sich durch den Schlaganfall auch wieder neue Türen geöffnet haben. Hier kommt es stark auf das Umfeld an.

 

Thomas Diener: Wir möchten, dass sich die Betroffenen gegenseitig stärken. Freie Plätze in den Wohngemeinschaften vergeben wir darum nur an Personen, die gut in die Gruppe passen. Einerseits sind unsere Klientinnen und Klienten Personen, die direkt nach der Rehaklinik einen

Wohnplatz suchen und sich zuerst in der neuen Lebenssituation zurechtfinden müssen; anderseits sind wir auch offen für Personen, die bis anhin privat wohnten und neu einen betreuten Wohn- oder Tagesstrukturplatz benötigen.


Ihre Klientel verfügt ausnahmslos über eine IVAnerkennung. Haben Sie auch für alle zerebral und kognitiv Beeinträchtigten das passgenaue Angebot?

 

Thomas Diener: Mit unseren Angeboten in Eschenz, Steckborn und Winterthur sind wir gut aufgestellt und können die Bedürfnisse unserer Klientinnen und Klienten gut abdecken. Denn wir bieten in unserenBetrieben ganz unterschiedliche Wohnformen, Arbeits- oder Beschäftigungsmöglichkeiten an. Darum gelingt es uns oft, gemeinsam mit den beeinträchtigten Menschen und ihren Angehörigen ein passendes Angebot zu finden oder sie auf ihren nächsten Schritt im Leben vorzubereiten.


Mit der Lancierung dieses Magazins suchen Sie verstärkt den Dialog mit der Öffentlichkeit. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?

 

Thomas Diener: Mit diesem Journal möchten wir auf interessante und abwechslungsreiche Weise über unsere Tätigkeiten informieren, unserenBekanntheitsgrad steigern und sichtbarer werden: bei Angehörigen, Fachverbänden, zuweisenden Stellen und Entscheidungsträgern wie Beiständen oder Fachleuten in Rehakliniken. Sie alle sollen unsere Betriebe kennen und empfehlen. Zudem möchten wir die Bevölkerung für Themen wie Hirnverletzung, zerebrale und kognitive Beeinträchtigung sensibilisieren. Direktbetroffene müssen wissen, wo sie Unterstützung erhalten, Angehörige sollen erfahren, wie sie dank unseren Angeboten – insbesondere durch die Beschäftigung der Betroffenen in den Kreativateliers – entlastet werden können.


Pearl Pedergnana: Wir hoffen, dass das Journal auch unseren Mitarbeitenden gefällt. Am schönsten ist es, wenn sie sich mit ihrer sehr wichtigen Arbeit und der Stiftung andante identifizieren und dieses Journal vielleicht sogar ihrer Familie oder dem Freundeskreis zeigen. Nicht zuletzt wollen wir damit auch bei potenziellen Mitarbeitenden aus der Branche das Interesse für uns als Arbeitgeberin wecken.


Ist die Kommunikationsoffensive auch nötig, um den Kreis von Spenderinnen und Spendern zu erweitern?


Thomas Diener: Absolut. Über die Jahrzehnte konnte andante auf ein treues Gönnerpublikum zählen. Aber diese Generation wird älter und der Spendenmarkt ist heute stark umworben. Darum müssen wir uns intensiver als früher um Zuwendungen von neuen Sympathisantinnen bemühen. Auf diese Unterstützung sind wir trotz Anerkennung durch die IV und der Kantone Zürich und Thurgau angewiesen.

 

Die «Bärbeli»-Stiftung, wie die Stiftung andante früher hiess, hat man in Winterthur sehr gut gekannt. Das Wirken des Gründungsehepaars ist beeindruckend und entstand, weil es damals kaum Angebote für zerebral beeinträchtigte Menschen gab und diese als bildungsunfähig galten.


Pearl Pedergnana: Ich habe grossen Respekt vor der Leistung des Gründungsehepaars Regula und Hansruedi Maurer. Regula Maurer war eine Pionierin. Ihr Wirken war von Idealismus und Engagement geprägt. Sie ermöglichte es, dass in Winterthur erstmals vier Kinder mit einer zerebralen Behinderung geschult werden konnten. Als noch mehr Kinder zu ihr kamen, half auch ihr Gatte Hansruedi beim Unterrichten mit. Nach vier Jahren Tätigkeit im privaten Wohnzimmer stellte die Stadt das Ehepaar als Lehrkräfte an, bot ihnen Schulräume an und baute später eine ganze Schulanlage für körperlich behinderte Kinder, die Maurerschule. Den Namen «Bärbeli» erhielt die Stiftung bei ihrer Gründung 1976, weil die behinderte Nichte des Ehepaars Maurer, Barbara Keller, so genannt wurde. Der Entscheid, die Stiftung 2006 umzutaufen, war bei allem Respekt vor der Vergangenheit aber richtig. «Bärbeli» ist zwar niedlich, aber nicht mehr zeitgemäss und passt weder zu uns noch zu unseren Klientinnen oder Mitarbeitenden.


Der Zürcher Kantonsrat hat vor Kurzem das Selbstbestimmungsgesetz (SLBG) verabschiedet. Damit erfolgt im Behindertenbereich der Wechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung. Was heisst das?


Thomas Diener: Kurz gesagt, bedeutet dies, dass bei der Planung von Angeboten für Menschen mit Beeinträchtigung künftig nicht mehr die Institutionen im Mittelpunkt stehen, sondern die Bedürfnisse der Betroffenen. Dies ist auch im Sinne der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz im Jahre 2014 unterzeichnet hat.


Pearl Pedergnana: Was mich besonders freut, ist, dass das Parlament das neue Gesetz Anfang 2022 einstimmig genehmigte. Denn das heisst, dass die Politik verstanden hat, dass hier Handlungsbedarf besteht. Jetzt haben wir die gesetzlichen Grundlagen, damit beeinträchtigte Menschen Gleichberechtigung und Teilhabe erfahren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch tatsächlich selbst bestimmen können, welche Angebote sie in welchem Ausmass beanspruchen wollen, wie sie betreut und gepflegt werden wollen, wie sie wohnen und welcher Art Beschäftigung sie nachgehen möchten.


Thomas Diener: Als Teil einer Arbeitsgruppe arbeiten wir aktuell an der zum Gesetz gehörenden Verordnung mit. So können wir dafür sorgen, dass die Regelungen in der Verordnung auch praxistauglich sind. Die Stiftung andante wurde sogar auserkoren, ein Pilotprojekt zu lancieren, um erste Erfahrungen mit dem Gesetz zu sammeln. Konkret soll unser Wohnhaus an der Eckstrasse in Winterthur im Rahmen des Selbstbestimmungsgesetzes Schritt für Schritt von einem stationären Wohnhaus in ein ambulantes Angebot transformiert werden. Die Klienten werden dadurch neu zu Mietern ihres Studios und – ähnlich wie bei einer Spitex – individuell betreut. Auch können sie den Mietvertrag selber kündigen. Bis anhin war es so: Entweder man wohnte im Heim und hatte eine Rundumbetreuung oder man wohnte alleine und konnte sich maximal zwei Stunden Wohnbegleitung leisten.


Pearl Pedergnana: Spannend wird sein, wie die Betroffenen auf ihren grösseren Handlungsspielraum reagieren. Die Erfahrung zeigt, dass viele Behinderte dazu neigen, weniger Betreuung zu wollen. Wenn es dann aber konkret wird, merken sie oftmals, dass sie doch froh sind um eine gewisse Unterstützung, sei es bei der Haushaltsführung, in der Gestaltung von Beziehungen im sozialen Umfeld oder bei der Planung einer Reise mit dem ÖV.


Herr Diener, Sie arbeiten seit vier Jahren als Geschäftsführer bei der Stiftung andante und leiten ein Team von 111 Mitarbeitenden, was 64 Vollzeitstellen entspricht. Wie sind Sie zu andante gekommen?


Thomas Diener: Nach dem Studium der Sozialen Arbeit habe ich mich selbstständig gemacht und Projekte für Jugendliche umgesetzt, die nach der Schule keine Lehrstelle fanden. Anschliessend war ich im Personal- und Rekrutierungswesen sowie im Kurswesen für Erwerbslose tätig. Mit der Geschäftsführung von andante schliesst sich für mich thematisch ein Kreis. Denn schon in jungen Jahren engagierte ich mich in der «Pfadi trotz allem» (PTA) für Kinder mit verschiedensten Beeinträchtigungen.


Frau Pedergnana, Sie sind im Jahr 2016 als Stiftungsratspräsidentin zu andante gestossen. Was hat Sie bewogen, sich in diesem Bereich zu engagieren?


Pearl Pedergnana: Als Stadträtin von Winterthur war ich unter anderem zuständig für die Sonderschulung und hatte Einblick in die Lebensumstände von betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern. Dabei ist mir aufgefallen, dass es teilweise an Angeboten für kognitiv beeinträchtigte Menschen mangelt bzw. deren Integration in die Gesellschaft noch nicht in allen Bereichen Realität ist. Als kurz nach Amtsaufgabe die Anfrage von andante kam, zögerte ich nicht, mich hier zu engagieren. Denn das Stiftungsratspräsidium beinhaltet eine Aufgabe, die mit einer gesellschaftlich sinnvollen und wichtigen Arbeit verbunden ist. Hinzu kommt, dass ich auch in meinem privaten Umfeld mit dem Thema Hirnschädigung konfrontiert bin und Betroffene

sowie Angehörige kenne. 


Institutionen müssen sich aktuellen Rahmenbedingungen anpassen und auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Welche Herausforderungen stehen an?


Thomas Diener: Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz müssen wir, wie andere Institutionen übrigens auch, künftig konkurrenz- und wettbewerbsfähiger werden. Heute wird das Platzangebot von den Kantonen gesteuert. Künftig können die Institutionen im Kanton Zürich ihre Angebote frei gestalten, müssen als Dienstleister aber auch darum bemüht sein, dass sie sich auf dem Markt behaupten. Da wir uns durch eine offene Haltung und ein fortschrittliches Arbeitsverhältnis auszeichnen, bin ich zuversichtlich, dass uns dies gelingt.