PUBLIKATION

Denkmaljournal / CH Media

ZUSAMMENARBEIT

Regine Giesecke (Fotos)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

4.4.2022

BOHLENSTäNDER, BACH UND BRANDENBERG

 

Für ihre Schutzabklärungen stellt die Denkmalpflege umfangreiche Recherchen an. Dabei tauchen oft interessante bauhistorische Aspekte auf oder stösst man auf vielfältige archäologische Funde. Im Falle der Ägeristrasse 20 in Zug spielt zudem der Name Brandenberg eine wichtige Rolle

 

Es mag ein Zufall sein, aber rund um den Kolinplatz sind in Erdgeschossen so viele Nagel-, Kosmetik- und Beautystudios eingemietet, dass man sich fragt, ob diese Räume an so prominenter Lage nicht eine etwas attraktivere Nutzung verdient hätten. Der Blick ins Innere offenbart sterile Mietflächen mit weissem Mobiliar und grellem Licht. Alles wirkt irgendwie unpersönlich, seelenlos.


Wie viel reizvoller gestaltet sich da der Blick ins Innere der Liegenschaft Ägeristrasse 20 im gleichen Quartier. Da sitzt in einem aparten Raum mit historischem Gebälk die siebenjährige Regina Brandenberg an einem schwarzen Steinway Flügel und lässt ihre Finger über die Tasten gleiten; konzentriert und beflissen. Zu hören ist das Bach-Präludium in C-Dur. Regina trägt einen hellblauen Rock, rosa Söckchen und blaue Ballerinas. Die blonden Haare hat sie zu einem Knoten gebunden, ihre Füsse auf einem kleinen Holzpodest platziert. Regelmässig besucht die junge Dame an der Ägeristrasse den Klavierunterricht in der Musikschule von Slava Spiridonov, der hier eingemietet ist. Der gebürtige Weissrusse, 36 Jahre alt, schwärmt: von seiner Passion für die Musik, von der Möglichkeit, in Zug zu unterrichten, und von den wunderbaren Räumen im Herzen der Stadt. «Der Standort ist ideal. Die Schüler kommen gerne. Und ich fühle mich wohl. Auch die Akustik ist hervorragend. So macht Unterrichten Spass.»

 

Nicht nur das Erdgeschoss verdient Aufmerksamkeit. Das gesamte, im Jahr 1400 errichtete Haus bedarf der Würdigung, denn es handelt sich um ein Denkmal von regionaler Bedeutung in der Ortsbildschutzzone. Das Gebäude bildet – zusammen mit anderen Häusern im Quartier «Dorf» – eine geschlossene Häuserzeile, die zumindest in Teilen spätmittelalterlichen Ursprungs ist. Der älteste Teil des Hauses Ägeristrasse 20 ist ein sogenannter Bohlenständerbau, ein Bautyp, dessen Wände vollständig aus Holz sind und der dank Rahmenbauweise sehr flexibel ist. Hinzu kommt, dass sich in diesem von aussen letztlich unscheinbaren Haus über die Jahrhunderte viele historische Ausstattungselemente erhalten haben: Türen, Beschläge, Fenster, Böden, Fliesen, Wand- und Deckentäfer, verglaste Trennwände, Reste einer Herdstelle sowie eine hübsche Treppe samt dekorativem Geländer. Eine tolle Ausgangslage für Architekt Patrick Röösli, der vom Eigentümer – einer Zürcher Immobilienfirma – im Jahre 2018 mit der Sanierung beauftragt wurde. «Der Kontakt zum Eigentümer kam eher zufällig zustande, trotzdem genoss ich von Anfang an dessen volles Vertrauen», erinnert sich Röösli. Er erläuterte seine Ideen und das Vorgehen, und kurz darauf legte ihm der Bauherr unzählige Schlüssel auf den Tisch, die alle zu irgendeiner Tür im Haus passten. Kommentar: «Du kannst loslegen.»


Dies tat der denkmalaffine Architekt nur zu gerne, nachdem der Kanton den Antrag der Eigentümerschaft auf Unterschutzstellung im Herbst 2019 guthiess. Auf diese Weise konnte die  Bauherrschaft mit der finanziellen Unterstützung von Stadt und Kanton rechnen. Konkret sieht das Gesetz eine Beteiligung an «substanzerhaltenden Massnahmen» vor. «Für eine Bauherrschaft», so Röösli, «kann dies durchaus ein Anreiz sein, in eine alte Liegenschaft zu investieren.» Und nicht nur das. Rööslis Auftraggeber entwickelte zunehmend Freude an der Sanierung und auch einen gewissen Stolz, Eigentümer eines Denkmals zu sein – im durch Neubauten geprägten Zug eine exklusive Sache. Archäologische Bauuntersuchungen lieferten Hinweise, dass im Erdgeschoss möglicherweise einst ein Küfer tätig gewesen war. Dafür sprechen in den Boden eingelegte Wasserrinnen. Für das Biegen der Holzteile war man auf reichlich Wasser angewiesen. Zudem stiessen Fachleute auf zahlreiche Funde aus einer Zeitspanne, die vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert reicht: Geschirr, Ofen- und Baukeramik, Wallfahrts- und Heiligenmedaillons und rund 60 Münzen, wobei das älteste Stück noch vor dem Bau des Hauses – nämlich von 1385 bis 1395 – im Umlauf war. Also vor rund 640 Jahren.


Und was hat man im Rahmen der Sanierung gemacht? Weit mehr als nur den Schallschutz verbessert, was für ein Haus, das direkt an einer so stark befahrenen Strasse liegt und eine Musikschule beherbergt, naheliegend ist. Im Erdgeschoss wurde das Tragwerk nach historischem Vorbild ergänzt und der Durchgang optimiert, sodass Klavierlehrer und -schüler nun bestens zwischen Musizier- und Vorzimmer zirkulieren können. In den drei Wohnungen hat man die Decken ertüchtigt und neue Bäder sowie Wohnküchen eingebaut. Die bestehenden Kassettendecken, die Treppen aus Holz und Raumtrennwände mit geätztem Glas wurden aufgefrischt, neu eingebautes Brusttäfer und Fischgratparkett sorgfältig auf Bestehendes abgestimmt. Dachgeschoss und Dachboden wurden zu einer Maisonettewohnung zusammengefasst.


Was die Denkmalpflege besonders freute: Die Primärkonstruktion aus der Bauzeit um 1400 und der Dachstuhl aus dem 17. Jahrhundert konnten erhalten werden. Sie wurden verstärkt und Brandschutzmassnahmen umgesetzt. Praktisch unverändert blieben die bestehenden Grundrisse. Sie erwiesen sich auch für heutige Wohnbedürfnisse als ideal. Der Fassadenverputz wiederum änderte seinen Farbton – von Grün auf Ocker, was der Farbigkeit entspricht, die das Haus schon Anfang des 20. Jahrhunderts besass.

 

Apropos Fassade: Schaut man sich den strassenseitigen Haupteingang genauer an, fällt ein Detail auf, das der näheren Betrachtung bedarf. Es ist ein sorgsam eingemeisseltes Relief, bestehend aus einem von Flammen umgebenen Baumstamm, der auf einem dreiteiligen Hügel steht. Recherchen ergaben, dass es sich hierbei um das Wappen der aus Zug stammenden Familie Brandenberg handelt. Ein Blick in die chronologische Auflistung der Eigentümer, welche die Denkmalpflege erstellte, bestätigt: 1851 wurde das Haus von Josef Martin Brandenberg erworben und blieb über Erbschaft ununterbrochen im Besitze dieser Familie, bis es 2018 an die heutige Eigentümerin überging. Brandenberg? Hierbei handelt es sich doch nicht etwa um Vorfahren der klavierspielenden Regina? «So ist es», bestätigen ihre Mutter Elena und ihr Vater Manuel Brandenberg. Letzterer hat zwar selbst nie im Haus gewohnt, doch hier regelmässig seine «Tante Trudi» – die Schwester seines Vaters Ernst – besucht. Insbesondere an die alte knarrende Holztreppe und die gemütliche Stube mit den niedrigen Decken kann sich der Zuger Rechtsanwalt noch gut erinnern. Hin und wieder gab es auch Besuch von den Kapuzinern, die bis 1997 auf der anderen Strassenseite im nahegelegenen Kloster wohnten.

 

Josef Martin Brandenberg wäre mit Bestimmtheit hell begeistert, wenn er wüsste, dass seine talentierte Ur-Ur-Urenkelin nun ausgerechnet in «seiner» einstigen, gekonnt sanierten Liegenschaft musiziert. Ein Kreis schliesst sich. Und plötzlich wird klar: Der Wert unserer Denkmäler umfasst weit mehr als bauhistorische Aspekte, weil sie Geschichten erzählen, mit Erinnerungen und Emotionen verbunden sind.

 

Dem stimmt auch Manuel Brandenberg zu, der sich als SVP-Kantonsrat immer mal wieder kritisch zur Zuger Denkmalpflege äussert. Er berichtet, dass im Erdgeschoss des Hauses einst auch einmal ein Beautysalon eingemietet gewesen sei – genauer ein Coiffeur. «Es roch immer so gut nach Shampoo.»