PUBLIKATION

Magazin Phönix

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

9.12.2020

«BEI UNS GIBT ES KEINE HOFFNUNGSLOSEN FäLLE»

 

Psychiater Patrik Hochstrasser, Chefarzt und Leiter der Ambulanten Psychiatrie und Psychotherapie (APP) Zug der Triaplus AG, erzählt im Interview, wie durch Behandlung selbst schwer erkrankten Menschen geholfen werden kann.

 

Der Beruf des Psychiaters steht meist nicht auf der Wunschliste junger Menschen, die sich Gedanken über ihre Zukunft machen. Was hat Sie bewogen, Psychiater zu werden?

Nach Abschluss des Medizinstudiums an der Universität Zürich wollte ich mich Richtung Ophthalmologie, also Augenheilkunde, entwickeln. Allerdings war an der Universitäts-Augenklinik die passende Stelle nicht frei. Um die Wartezeit zu überbrücken, nahm ich ein Angebot an der Psychiatrischen Uwniklinik in Zürich an und absolvierte dort nach drei Jahren den Facharzttitel. Als eine Person, die nicht so schnell von ihren Grundsätzen abweicht, wartete ich aber nach wie vor auf die später frei werdende Ausbildungsstelle in der Ophthalmologie und trat diese an. Erst dann realisierte ich, dass mir die breit gefächerte Psychiatrie, die den Menschen ganzheitlich betrachtet, viel besser gefiel als die oftmals von routinierten und monotonen Abläufen geprägte Ophthalmologie. 

 

Die APP Zug behandelt Menschen mit unterschiedlichen Störungen und Erkrankungen. Wie setzt sich Ihre Klientel zusammen?

Mehr als die Hälfte unserer Patientinnen und Patienten leidet an einer Störung aus der Gruppe «neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen». In der Statistik werden diese Diagnosen als F4, F3, F2 geführt. Ich weiss: Das klingt sehr akademisch und abstrakt, doch diese Kategorisierung ergibt sich aus der von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegebenen «Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10», und daran orientieren wir uns. Leute mit solchen Störungen kämpfen oft mit massiven Stimmungsschwankungen, leiden unter fehlendem Antrieb und mangelnder Energie. Sie haben Anpassungsstörungen, Angststörungen, Zwangsstörungen oder leiden unter einer affektiven Störung. Grosse innere Anspannungen können hier das Thema sein oder auch Aggressionen. Menschen mit psychotischer Erkrankung wiederum können von Schizophrenie betroffen sein und beispielsweise Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen entwickeln.

 

Wie reagieren Menschen, wenn man bei ihnen die Diagnose einer manisch-depressiven Erkrankung, einer Verhaltensauffälligkeit oder Entwicklungsstörung stellt?

Viele Patienten sind erleichtert zu erfahren, dass es sich um eine bekannte Krankheit handelt, für die es Behandlungsmöglichkeiten gibt. Eine sorgfältige Diagnostik ist zudem wichtig, damit der Patient die für ihn beste Behandlung erhält. Für mich hat das auch eine ethische Komponente. Einem Krebspatienten soll die beste Behandlung zuteilwerden. Warum soll dies nicht auch für psychisch erkrankte Menschen gelten? Trotzdem ist eine gute Diagnostik nicht immer einfach. Manchmal wissen auch die klügsten und erfahrensten Professoren nicht, was sich hinter einem auffälligen oder seltsamen Verhalten verbirgt. Oder es kommt vor, dass eine Diagnose zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht abschliessend gestellt werden kann bzw. im Laufe der Zeit angepasst werden muss. Ein Beispiel: Ein Patient, den ich während mehr als 20 Jahren behandelt habe und der immer wieder stationär in der Klinik behandelt wurde, lebte jahrelang mit der Diagnose einer chronischen paranoiden Schizophrenie. Im Laufe der Zeit entwickelte dieser Mann Symptome einer Manie und man musste die Diagnose anpassen.

 

Begriffe wie Schizophrenie oder Wahn lösen bei vielen psychisch gesunden Menschen Unbehagen, Angst oder Abwehr aus. Was spielt sich im Kopf von Betroffenen ab?

Bei psychotischen Erkrankungen liegt eine Störung der Verarbeitung von Informationen vor. In der Folge kann es zu Wahnvorstellungen kommen. Betroffene kombinieren verschiedene Eindrücke miteinander, verknüpfen Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Ein beispielsweise etwas längerer Blick von einem Passanten, der auf der Strasse entgegenkommt, löst Angst aus, wird als Gefahr wahrgenommen. Das Verhalten der erkrankten Person ist von Misstrauen geprägt. Dies kann so weit gehen, dass nicht nur fremde Menschen und Bekannte, sondern auch wir, die Fachleute, die eigentlich helfen wollen, als Gefahr wahrgenommen werden und der Patient das Gefühl hat, gegen ihn werde ein Komplott geschmiedet. Ebenfalls zu psychotischen Symptomen können Halluzinationen, also Sinnestäuschungen, gehören. Hier arbeitet das Hirn zu viel oder es reagiert auch ohne entsprechenden äusseren Sinnesreiz. Gestern hatte ich eine Frau in Behandlung, die mir erzählte, sie spüre, wie ihr ständig jemand mit dem Finger auf die Schulter klopfe, dass aber dann – wenn sie nach der Person schaue – niemand da sei. Dieses Phänomen hat man gut untersucht, und man tut diesen Menschen Unrecht, wenn man sie nicht ernst nimmt. Mit bildgebenden Verfahren konnte man nachweisen, dass bei betroffenen Personen während des Halluzinierens entsprechende Hirnareale tatsächlich aktiv sind, wie wenn ein äusserer Reiz stattfinden würde. Für den Betroffenen ist dies dann seine eigene, private Wirklichkeit, die das Umfeld mit ihm jedoch nicht teilen kann.

 

Sind Sie auch mit sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Depressionen und Burnout konfrontiert, die in unserer Leistungsgesellschaft ein grosses Thema sind und – so scheint es – massiv zunehmen?

«Burnout» ist – im Gegensatz zur Depression – keine medizinische Diagnose. Das heisst aber nicht, dass eine Depression per se schlimmer ist als ein Burnout. Die Symptome der beiden Krankheitsbilder können sich auch überschneiden. Ich stelle fest: Menschen mit einer leichten bis mittelschweren Depression gehen häufig noch ihrer Arbeit nach. Wer ein fortgeschrittenes Burnout hat, ist dazu häufig nicht mehr imstande. Er hat eine Aversion gegenüber seiner Arbeit, ist wie gelähmt, blockiert. Im Kanton Zug gibt es viele internationale Firmen mit top qualifizierten Angestellten und Managern, die sich in ihrem Job sehr verausgaben. Ein Teil davon kommt zu uns, wenn es nicht mehr geht. Und die Feststellung, dass es «nicht mehr geht», kommt für diese Menschen einer Katastrophe gleich. Denn beruflich erfolgreiche Menschen haben oft sehr hohe Ansprüche an sich und wollen alles perfekt machen. Nicht selten handelt es sich um Patienten, die in der Kindheit Ablehnung oder Abwertung erfahren haben und jetzt alles tun, um in der Gesellschaft zu reüssieren und sich selbst zu genügen. Das Gemeine ist: Dieses Ziel ist kaum zu erreichen, weil leistungsorientierte Menschen auch mit sich selbst so streng sind.

 

Wie stark sind Sie in Ihrer Arbeit mit Suchterkrankungen beschäftigt? Drogensucht, Arbeitssucht, Spielsucht, Sexsucht, Kaufsucht, PC-Sucht – das Spektrum wird ja immer breiter.

Sucht ist ein grosses Thema. Hier sind wir, um in der ICD-10- Klassifikation zu bleiben, bei Diagnosen im Bereich F1. Man kann allgemein unterscheiden zwischen Suchtverhalten und Substanzabhängigkeit. Leute mit einem Suchtverhalten bzw. einer Abhängigkeitskonstellation weisen – egal, ob sie Alkohol oder Kokain konsumieren – Gemeinsamkeiten auf und unterscheiden sich von Menschen ohne spezifisches Suchtverhalten in verschiedener Hinsicht. Letztere können ihre Bedürfnisse auf verschiedensten Kanälen zufriedenstellen. Sie gehen mit Freunden essen, treiben Sport, engagieren sich in einem Verein, kochen oder gärtnern. Menschen mit Suchtkonstellationen sind, damit sie einen Gefühlszustand der Zufriedenheit erlangen, eher auf einen Kanal fokussiert: Computerspiele, Cannabis, Amphetamine, Heroin, Alkohol. Hier kann es im Verlauf des süchtigen Verhaltens auch zu Metamorphosen kommen. Ein Beispiel: Eine psychisch schwer erkrankte Patientin hat mir neulich gestanden, sie hätte eine Glücksspielsucht entwickelt – einerseits ein neues Problem, das sie mir offenbarte, anderseits aber auch eine Folge ihres sich verbessernden Gesundheitszustandes. Bis vor Kurzem hätte es die schlechte Gemütsverfassung der Frau nicht erlaubt, in die Öffentlichkeit zu gehen, um an einem Kiosk Glückslose zu kaufen. Dies war nun möglich, schuf aber neue Probleme.

 

Hatten Sie es in Ihrer Karriere auch schon mit hoffnungslosen Fällen zu tun, wo Sie selbst als erfahrener Arzt und Therapeut nicht mehr weiterwussten?

Mit dem Begriff «hoffnungslos» habe ich Mühe. Denn es würde bedeuteten, dass man die Hoffnung in Bezug auf einen Menschen aufgibt. Eine solche Haltung, ein solches Urteil, würde gegen meine berufliche Ethik, meine Grundsätze verstossen. Auch bei komplexen und ausgeprägten Krankheitsbildern gehe ich davon aus, dass wir Fachleute zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes beitragen können. Klar hat es da ein Chirurg vielleicht einfacher, der – getreu dem Grundsatz «mit dem Messer geht es besser» – operiert und anschliessend die Wunde zunäht. Hier gibt es häufig ein klares Vorher/ Nachher. Was bei uns vorkommt, ist, dass wir feststellen, dass eine Sitzung pro Woche nicht mehr reicht. In einem solchen Fall wird eine stationäre Behandlung in Betracht gezogen.

 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Phönix? Über die Stiftung gelangen regelmässig Patienten zu Ihnen. Was können Sie für diese Menschen tun?

Die Zusammenarbeit mit Phönix läuft sehr gut. Leute, die zu uns als Patienten kommen, befinden sich teilweise in Institutionen von Phönix oder nehmen deren Spitex-Dienste in Anspruch. Mit den Phönix-Heimleitungen oder auch den Bezugspersonen der Patienten findet ein guter Austausch statt. Die Phönix-Mitarbeitenden sind ja oft viel näher an den Patienten als wir. Sie wissen, wie es ihnen geht, stellen Verhaltensänderungen oder gar Symptome fest, die erfordern, dass wir aktiv werden. Wir sind da aufeinander angewiesen. In der Arbeit unterscheidet uns ein weiterer Punkt: Die APP Zug sucht die Patienten – ausser in Notfällen – nicht zu Hause auf. Die Phönix-Fachleute hingegen kennen das Umfeld ihrer Patienten und haben daher zusätzliche Informationen. Anders gesagt: Wir verfügen über ein Foto des Patienten, Phönix hingegen kennt den Film. Die Zusammenarbeit ist geprägt von Respekt. Alle Involvierten schätzen gegenseitig, was an Arbeit geleistet wird.

 

Ihr Angebot ist niederschwellig. Heisst das, dass man bei Ihnen auch ohne Zuweisung durch einen Arzt einen Termin erhält, etwa, wenn man in einer allgemeinen Lebenskrise steckt?

Dem ist so: Wer sich aufgrund von Problemen abklären lassen will, kann zu uns an den Schalter kommen und erhält einen Termin in der Sprechstunde. Diese sogenannten «Selbstanmeldungen» machen über 40 Prozent aus, die Anmeldungen über den Hausarzt 35 Prozent. Manchmal meldet sich auch die Polizei bei uns, weil sich eine Person sehr auffällig verhält, allenfalls verwirrt ist. Hier stellt sich die Frage, ob es – beispielsweise wegen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung – eine fürsorgerische Unterbringung (FU) braucht. Einige wenige Anmeldungen erfolgen schliesslich über Beratungsstellen, Sozialdienste oder Justizbehörden.

 

Als Institution der Triaplus AG decken Sie im Auftrag des Psychiatriekonkordats der Kantone Uri, Schwyz und Zug die psychiatrische Grundversorgung der erwachsenen Bevölkerung im Kanton Zug ab. Was heisst das?

Anders als Kollegen aus der Psychiatrie, die eine eigene Praxis führen, besteht für unsere Institution eine Aufnahmepflicht. Immer wieder kommt es vor, dass wir Personen abklären, bei denen wir denken, diese hätten sich besser schon viel früher bei uns gemeldet. Ich denke da an einen Patienten, der sich monatelang im Zimmer einschloss, kaum mehr Nahrung zu sich nahm und erst durch das Aktivwerden der verzweifelten Angehörigen den Weg zu uns fand. Unbehandelt entwickeln diese Leute oft problematische Verhaltensweisen, die sich je länger je mehr verstärken.

 

Sie haben es erwähnt: Eine psychische Erkrankung kann die Lebensqualität von Betroffenen, aber auch von Angehörigen stark beeinträchtigen. Wie gross ist die Gefahr der Vereinsamung?

Die Gefahr besteht. Aber eben: wir sollten auch über die Therapieerfolge sprechen. Lassen Sie mich von einem jungen Mann erzählen. Er kam vorbei und sprach kein Wort. Ich stellte ihm Fragen, wartete ab, er blieb abermals stumm. Bei den nachfolgenden Konsultationen kamen allmählich kurze, dann etwas längere Antworten. Die Abklärungen ergaben, dass der Mann unter Autismus leidet. Er blieb bei mir in Therapie. Eines Tages sprach ich ihn auf unsere erste Begegnung an und fragte ihn, warum er damals nicht geantwortet habe. Er erklärte, dass sich in seinem Kopf zwanzig verschiedene Antworten vermengten und er, weil er nicht wusste, für welche er sich entscheiden sollte, nur noch Schweigen konnte. Das Reagieren auf Menschen fiel diesem Mann generell schwer. Er getraute sich kaum mehr unter die Leute. Gemeinsam erstellten wir einen Plan mit «Übungen», wie er mit anderen Leuten ins Gespräch kommen konnte. Er war motiviert, unternahm immer wieder entsprechende Versuche und erzählte mir in der Therapie, wie es ihm dabei ergangen ist. In der Folge hatte er mehrere positive Erfahrungen, die wie ein Verstärker wirkten. Nach der fünfjährigen Behandlungszeit war dieser Mann imstande, einen Dialog zu führen.