PUBLIKATION

Buch «Zum Virus» Verlag Rex

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.12.2010

DIE KLEINEN RUNDEN - TAG FüR TAG

 

Eine Vielzahl HIV-positiver Menschen schlucken jeden Tag hochwirksame Medikamente. Die richtige Dosis und korrekte Einnahme, aber auch das gute Verhältnis zum Arzt entscheiden über den langfristigen Erfolg der Therapie.

 

Frühmorgens, nach dem milden Tagesanbruch, hat David H. die anstehende Korrespondenz mit seinen Berufskollegen bereits erledigt, die wichtigsten Telefonate von seinem Homeoffice aus geführt, eine gute Portion Grüntee getrunken und seine sechs Tabletten geschluckt.

 

So eloquent und selbstverständlich redet der 49-jährige Berner mit der Hornbrille über Fusions- und Integrasehemmer, Protease- und CCR5-Inhibitoren, dass man sich im Gespräch mit einem Facharzt wähnt. Die Namen von Wirkstoffen wie Abacavir, Tenofovir, Didanosine, Efavirenz, Lopinavir, Ritonavir und Tipranavir gehen ihm fliessend über die Lippen, wenn er über die Zusammensetzung der verschiedenen HIV-Cocktails und von der jahrelangen Suche nach dem für ihn richtigen Medikamentenmix erzählt. David H., HIV-positiv seit 23 Jahren, ist definitiv ein Kenner der Materie, und eine gewisse Faszination für die Chemie im Körper ist im Gespräch nicht zu überhören. «Ich bin ein Fachmann», stellt er unaufgeregt fest. «Ich kenne zwei Dutzend Medikamente aus dem Effeff, weiss, wie sie wirken und welche Nebenwirkungen sie in welcher Phase der Einnahme haben.» Als Mitglied der European Aids Treatment Group, eines internationalen Bündnisses von Betroffenen und Ärzten, verfolgt H. die Entwicklungen und Erfolge auf dem Medikamentenmarkt engagiert und kritisch und hat zu den Pillen – nach jahrelanger Therapieverweigerung wegen persönlichen Vorbehalten – mittlerweile ein entspanntes, man könnte fast sagen gutes Verhältnis. «Sie haben mir das Leben gerettet», sagt er, «so einfach ist das.»

 

Nicht nur für David H., sondern für rund 9000 HIV-Positive in der Schweiz ist ein Leben ohne Medikamente nicht mehr vorstellbar. Ob als Kapsel, Tablette oder als in Saft aufgelöstes Pulver – jeden Tag finden die Wirkstoffe den Weg in ihren Körper, entweder alle 12 oder alle 24 Stunden. Die Fortschritte, welche bei der so genannt hochaktiven antiretroviralen Therapie – kurz HAART – im Laufe der letzten zehn Jahre erzielt wurden, sind beachtlich. Sie gelten jedoch nur für die Schweiz und ähnlich hochentwickelte Länder der westlichen Welt, wo man sich die neuen Medikamente leisten kann und wo deren Wirksamkeit durch Forscher engmaschig kontrolliert wird. Eine Tagesration kostet schnell bis zu 70 Franken, und pro Jahr verursacht eine Therapie Kosten in der Höhe von rund 25'000 Franken. In der Schweiz stehen zurzeit 25 Medikamente und 21 verschiedene Substanzen zur Behandlung der HIV-Erkrankung zur Verfügung. Sie haben zwei Ziele: Die Viruslast im Blut zu senken und damit gleichzeitig die Zahl der überlebenswichtigen CD4-Zellen zu erhöhen, die für ein funktionierendes Abwehrsystem zentral sind.

 

In der Bewältigung des Alltags sind die Medikamente für die Betroffenen oft Fluch und Rettung zugleich: Einerseits sind sie nötig, um die Viren zu töten, anderseits wird die Abhängigkeit von der Chemie, von Ärzten, Apotheken, vom ganzen Krankensystem von vielen auch als Belastung empfunden. Infiziert durch einen ungeschützten Sexualkontakt mit einem anderen Mann, verweigerte David H. darum zehn Jahre lang die Einnahme von Tabletten. «Ich fühlte mich gut und wusste um die vielen Nebenwirkungen. Darauf hatte ich keine Lust.» Er ging seiner Arbeit nach, schützte sich konsequent beim Sex und versuchte, so normal wie möglich zu leben. Das ging gut, bis er sich 1995 nicht mehr von einer Lungenentzündung erholte und nur knapp am Tod vorbei kam. Als bereits Millionen von Viren in seinem Körper tobten und sein Immunsystem total geschwächt war, willigte er schliesslich ein und begann mit einer so genannten Dreifachtherapie: drei verschiedene Medikamente aus zwei verschiedenen Klassen. Anfangs schluckte er täglich bis zu 30 Pillen, heute sind es noch sechs. Doch bis dahin war es ein langer, mühevoller Weg, begleitet von Koinfektionen und massiven Nebenwirkungen, auch Depressionen und Angstträumen. Seit dem letzten Check-up aber fühlt sich H. so gut wie nie zuvor. Seine Viren sind nicht mehr nachweisbar und die Werte der CD4-Zellen auf 800 angestiegen, was den Werten eines gesunden Menschen entspricht. Ob der lange Leidensweg hätte verkürzt werden können, wenn er nicht so stur die Medikamente verweigert hätte? «Ich weiss nicht, was wäre wenn», sagt H., «nicht einmal die besten Forscher wissen das.» Die Therapieverweigerung vor 1996, also bevor die heutigen Dreifachtherapien zum Einsatz kamen, habe ihm aber möglicherweise das Leben gerettet, denn so konnte er damals frei von Resistenzen mit der Therapie beginnen.

 

Tatsächlich ist bei der Behandlung von HIV-Patienten nach wie vor die grosse Frage, wann der optimale Zeitpunkt für den Therapiestart ist. Noch bis Ende der 90er-Jahre galt, so früh und so intensiv wie möglich nach dem Motto «Hit hard and early» zu behandeln – manchmal sogar unabhängig vom Immunstatus. Danach etablierte sich wegen der Langzeitnebenwirkungen und der Gefahr von Resistenzen ein späterer Beginn. Heute schlägt das Pendel wieder zurück in Richtung Frühstart, und internationale Leitlinien empfehlen, die Therapie zu starten, wenn pro Mikroliter Blut weniger als 350 CD4-Zellen vorhanden sind. Unabhängig von dieser Diskussion, die fortwährend mit Argumenten von neuen Studien genährt wird, ist der behandelnde Arzt gut beraten, auf seine Patienten zu hören. «Der optimale Start ist dann, wenn der Patient parat ist», sagt der Luzerner Aids-Arzt Markus Frei. Denn das Schlimmste sei, eine Therapie zu starten und diese nicht konsequent durchzuziehen: Dann bilden sich schon nach wenigen Monaten Resistenzen, und die Suche nach neuen Medikamenten geht von vorne los. «Ich warte lieber etwas länger, dafür macht der Patient überzeugt mit», sagt Frei, der in seiner Praxis an der Zürichstrasse in Luzern seit bald zwanzig Jahren 170 HIV-Patienten behandelt.

 

Immer wieder erlebt er, dass seine Patienten in Eigenregie über mehrere Wochen hinweg die Medikamente absetzen und herausfinden wollen, ob es auch ohne geht. Die kämen dann in die Praxis, liessen ihre Werte testen und kommentierten die guten Werte maliziös mit den Worten: «Ich nahm übrigens gar keine Medikamente.» Grad so, als hätten sie ihn, den Spezialisten, reingelegt. Markus Frei versucht dann klarzumachen, dass es eigentlich nichts bringt, ihn anzulügen, sondern dass man offen reden könne. Wie jener Patient, heute 70 Jahre alt, der 1997 am Universitätsspital Zürich mit Dreierkombination anfing und nach zehnjähriger Therapie zu Frei nach Luzern wechselte. Er fasste sofort Vertrauen zum Luzerner, zögerte nicht mit einem Geständnis und erklärte, er habe während der ganzen Zeit nur die halbe statt der effektiv verschriebenen Dosis Medikamente geschluckt und auf die Morgendosis grundsätzlich verzichtet. Der Luzerner nahm die Offenbarung staunend zur Kenntnis. Am anonymen Universitätsspital, erklärte ihm der Patient daraufhin, sei er jedes Mal von einem anderen Arzt behandelt worden und fasste zu keinem der Spezialisten Vertrauen. In der kleinen, familiär betriebenen Praxis des sympathischen Dr. Frei war das anders.

 

Ist ein Therapieab- oder -unterbruch nicht zu umgehen, sollte dies nur in Absprache mit dem behandelnden Arzt geschehen. Dabei sollten nie nur einzelne Medikamente, sondern immer nur alle zusammen abgesetzt werden. Vor so genannten Drug-Holidays, die in den 90er-Jahren noch ein Thema waren, wird heute aber gewarnt. Und dies mit gutem Grund: Die so genannte SMART-Studie, bei der über 5500 Teilnehmer aus 33 Ländern mitmachten, zeigte nämlich, dass es den Patienten, die Therapiepausen eingelegt hatten, schlechter ging als jenen Patienten, die täglich ihre Medikamente eingenommen hatten. Auch hatten jene Patienten, die Medikamentenpausen machten, ein deutlich höheres Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko.

 

Das A und O für den Erfolg der HIV-Therapie ist darum laut Infektiologe Pietro Vernazza die Adhärenz, die Therapietreue. «Bei unregelmässiger Einnahme kommt es rasch zu einem Therapieversagen infolge Resistenzbildung, und die Medikamente, gegen welche das Virus resistent geworden ist, können nicht mehr eingesetzt werden.» Ihre Wirksamkeit haben sie für immer verloren. Gerade punkto Resistenzen konnten in den letzten Jahren aber grosse Erfolge erzielt werden. Eine vom Schweizer Nationalfonds (SNF) unterstützte repräsentative Kohorte mit 8000 Personen (was knapp der Hälfte aller HIV-Patienten in der Schweiz entspricht) zeigt, dass immer mehr HIV-Patienten gut auf die heute auf dem Markt zugelassenen Medikamente reagieren. Während die Forscher im Jahr 1999 bei etwa 50 bis 70 Prozent der untersuchten HIV-Positiven Viren fanden, die gegen Medikamente resistent geworden waren, lag der Anteil im Jahr 2007 nur noch bei etwa 37 bis 45 Prozent. Dazu beigetragen haben auch clevere Hilfsmittel, die HIV-Patienten an die Medikamenteneinnahme erinnern, wie die MEMS (Medication Event Monitoring System)-Box. An ihr ist im Schraubdeckel eine Elektronik eingebaut, welche jedes Öffnen (Datum und Zeit) registriert und den Patienten an die fällige Einnahme erinnert. Üben können die Patienten die Handhabung der Box schon vor dem Start der HIV-Therapie – mit einem simplen Vitaminpräparat.

 

Viele Ärzte haben aber durchaus Verständnis dafür, wenn HIV-Patienten der Medikamente überdrüssig sind. Bei der täglichen Einnahme von vielen Tabletten kann es schon mal vorkommen, dass man sagt: «So, jetzt ist genug, heute will ich nicht.» Denn die Pillen erinnern die Patienten ständig an ihren positiven Status. Aids-Medikamente haben – je nach Wirkstoffkombination – mitunter auch schwere Nebenwirkungen. Durchfall und Kopfschmerzen gehen meist nach wenigen Wochen zurück und sind in der Regel gut behandelbar. Problematischer sind Langzeitnebenwirkungen wie schmerzhafte Entzündungen der Nerven in den Armen und Beinen (Neuropathien). Besonders belastend sind für viele HIV-Patienten Störungen des Fettstoffwechsels und der Fettzusammensetzung des Körpers, was die HIV-Infektion beziehungsweise deren Behandlung sichtbar macht. Hierzu zählen der Schwund von Unterhautfettgewebe im Gesicht, an den Armen und Beinen sowie die Anlagerung von Fettgewebe am Bauch und im Nacken. Auch David H. ist davon betroffen. Er zeigt auf seine Wangenpartie, die aufgrund des fehlenden Unterhautfettes leicht eingefallen wirkt und ihn älter beziehungsweise strenger aussehen lässt. «Durch den Umbau des Körperbildes», bestätigt Alexandra Calmy, wissenschaftliche Oberärztin an der Klinik für Infektionskrankheiten in Genf, «können sich die Patienten stigmatisiert fühlen und den Wunsch haben, die Medikamente abzusetzen.»

 

Konfrontiert mit der Einnahmedisziplin der Patienten sprechen die Ärzte von zwei verschiedenen Typen: Auf der einen Seite stehe der zuverlässige, vernünftige, einsichtige Patient, der seine Pillenbox habe, jeden Tag seine Medikamente nehme, alle drei Monate pünktlich zum Check-up komme, keine Nebenwirkungen habe, zur Arbeit gehe und nie krank sei. Das ist oftmals der gut integrierte, ausgebildete, schwule Mann mit sozialem Netz, der noch andere HIV-Positive in seinem Freundeskreis hat und die Medikamente in seinen Lebensstil zu integrieren weiss. Aufwändiger und schwieriger seien auf der anderen Seite die ehemaligen Drogensüchtigen, die aufgrund ihrer Biografie und des Lebenswandels oft Mühe damit bekunden, sich an einen festgelegten Medikamentenplan zu halten. «Da ist man als Arzt schon intensiver gefordert», so Markus Frei, der eine Vielzahl von ehemaligen Fixern betreut.