PUBLIKATION

Buch «Zum Virus» Verlag Rex

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.12.2010

IRRATIONALE ÄNGSTE

 

Die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen im Alltag ist Vergangenheit. Nicht aber die institutionelle Diskriminierung. Das erfahren Betroffene, wenn sie eine Versicherung abschliessen, eine Firma gründen, Militärdienst leisten oder ins Ausland reisen möchten.

 

Ist es Ignoranz, Angst oder – Dominik Bachmann, Jurist bei der Aids-Hilfe Schweiz (AHS), zögert, das Wort auszusprechen – schlicht Dummheit, die den Inhaber einer Zürcher Bäckerei dazu bewogen hat, den 35-jährigen Remo K. aufgrund seiner HIV-Infektion nicht anzustellen? Die Begründung jedenfalls lässt diesen Schluss zu. Die Gefahr, dass der gelernte Patissier das Virus beim Brötchenbacken oder Teigkneten auf andere Menschen übertragen könnte, sei einfach zu gross. Zudem, argumentiert der Arbeitgeber, könnte bei Bekanntwerden der Anstellung eines HIV-Positiven die Kundschaft ausbleiben, und er müsste auf seinen Brötchen sitzen bleiben.

 

Besagter Fall ist nur einer von insgesamt 700 Fällen, die der 39-jährige Bachmann und sein Team jährlich bearbeiten oder – was selten vorkommt – vor Gericht bringen. Zweieinhalb Tage pro Woche steht die Rechtsberatung Betroffenen zur Verfügung, wobei auch Partner, Eltern oder Freunde den kostenlosen Service in Anspruch nehmen. Die meisten Rechtsfragen, so Bachmann, tangieren den Bereich Arbeit und betreffen Probleme und Lücken im System sozialer Sicherheit; wobei man hier betonen muss, dass diese nicht immer mit den Eigenheiten von HIV/Aids zu tun haben, sondern vielmehr typisch sind für alle Menschen mit einer chronischen Krankheit. Noch immer seien in Bezug auf HIV diffuse Ängste spürbar und eine Skepsis auszumachen, wenn es darum gehe, wie HIV-Positiven in der Arbeitswelt begegnet werde.

 

Vor allem in der Gastronomie- und Lebensmittelbranche grassieren teils irrationale Vorstellungen und erschreckendes Unwissen über das Ansteckungsrisiko bei der Zusammenarbeit mit einer HIV-infizierten Person. Wie sonst liesse sich erklären, dass ein Berner Kantinenbetrieb einer HIV-positiven Mitarbeiterin kündigen wollte, mit der Begründung, die Anstellung verstosse gegen die Hygienebestimmungen des Lebensmittelgesetzes. In solchen Fällen nimmt die AHS einfach nur ihre Aufgabe als Aufklärerin wahr und stellt klar: Es existiert in der Schweiz kein Beruf, der von HIV-Positiven aufgrund von Hygiene- oder andersartigen Vorschriften nicht ausgeübt werden darf.

 

Praktisch verwehrt hingegen bleibt HIV-Positiven der Weg in die berufliche Selbständigkeit, wie mehrere von der AHS betreute Fälle belegen. HIV-Positive haben praktisch keine Chance, eine Kranken-Taggeldversicherung abzuschliessen. Begründung: Das Risiko ist zu gross. Selbst wenn sich der Betroffene in langjähriger und erfolgreicher medikamentöser Therapie befindet, wird ihm die Aufnahme in der Regel verwehrt. Der 51-jährige Karl W. aus Chur, langjähriger Platzspitzklient und seit 21 Jahren HIV-positiv, konnte seine Kommunikationsfirma ohne Taggeldversicherung nur gründen, weil ihm seine wohlhabenden Eltern finanziellen Rückhalt zusicherten, falls es ihm gesundheitlich einmal schlecht gehen sollte.

 

Die einzige Chance, als selbständig Erwerbender taggeldversichert zu sein, hat jener Betroffene, der vor seiner Seropositivität als Angestellter in einem Kollektiv versichert war und ohne Risikoselektion in die Einzeltaggeldversicherung übertreten kann. Trotz dieser unbefriedigenden Rechtslage rät Bachmann Betroffenen ab, zu lügen. Dieser Schuss, warnt er, könnte nach hinten losgehen, da nämlich eine Versicherung eine Leistung verweigern darf, wenn wissentlich falsche Angaben zum Gesundheitszustand gemacht wurden. Dasselbe gilt für Zusatzversicherungen bei Krankenkassen, die HIV-Positiven generell verweigert werden, selbst dann, wenn sie sehr gute Blutwerte haben. Für Bachmann ist das je länger, je weniger nachvollziehbar. «Die medizinischen Fortschritte werden von den Versicherungen einfach ignoriert», kritisiert er und betont, dass viele HIV-Positive voll im Leben stehen und ihre Zukunft planen möchten, aber punkto Sozialversicherungen nicht können. Der Erwerb von Wohneigentum zum Beispiel, wo eine Lebensversicherung bei geringem Eigenkapital oft vorausgesetzt wird, ist für HIV-Positive praktisch unmöglich. Das Risiko ist den Versicherungen zu gross.

 

Immer wieder für Probleme sorgen die Formulare der Pensionskassen, die bei Stellenantritt ausgefüllt werden müssen und auf denen – sobald es den überobligatorischen Bereich betrifft – Angaben zum Gesundheitszustand gefordert werden. «Die vertraulichen Angaben zur Gesundheit bleiben oft nicht der Pensionskasse vorbehalten, sondern machen manchmal noch den Umweg über den Arbeitgeber», sagt Bachmann und zitiert einen Fall, wo ein 32-jähriger IT-Berater aus Basel besagtes Formular vor den Augen des Personalchefs ausfüllen und sich unfreiwillig als HIV-Positiver outen musste. Die AHS empfiehlt daher, solche Formulare zu Hause auszufüllen. Ein weiteres Problem: Bei kleineren Firmen und KMU wird die Pensionskasse oft von der Personalabteilung geführt. Eine Trennung der Informationen ist nicht möglich. In den Gesundheitsfragebögen von Vorsorgeeinrichtungen ist zudem oft eine Art Blankovollmacht enthalten. Sie ermächtigt die Vorsorgeeinrichtung, sich im Leistungsfall mit unterschiedlichsten Akteuren in Verbindung zu setzen. Datenschutzkonform ist das nicht.

 

Viele Leute, auch nahe Angehörige, die vom positiven Status einer Person Kenntnis haben, sind sich gar nicht darüber im Klaren, dass sie Träger einer delikaten Information sind, und geben diese mitunter unüberlegt weiter. Sicher keine böse Absicht stand hinter dem Ansinnen einer Mutter aus dem Zürcher Oberland, ihren neuen Freund über die HIV-Infektion ihres Sohnes zu informieren. Sie wollte Klarheit, keine Heimlichtuerei und vertraute ihrem Freund. Dieser aber mochte die Information nicht für sich behalten, setzte sogleich das ganze Dorf darüber in Kenntnis und löste ein kleineres Erdbeben aus. Einem Aussätzigen gleich, sah sich der Betroffene mit unzumutbaren Kommentaren konfrontiert und entschloss sich, den Wohnort zu wechseln. «Datenschutzverletzungen durch nahe Angehörige», so Bachmann, «sind für Betroffene besonders schmerzhaft.» Doch seien sich diese oft keiner Schuld bewusst: «Ich meinte es ja nur gut», heisst es dann. «Ich konnte doch nicht wissen, dass ...»

 

Dennoch räumt der erfahrene Jurist auch die Gefahr seitens Betroffener ein, in jeder Aktion einen Akt der Diskriminierung zu vermuten. Ein distanzierter Händedruck, der Verzicht auf Begrüssungsküsschen, ein Korb beim Tanzen: Nicht jede Geste hat mit dem Virus zu tun. Der Fall eines 48-jährigen Privatbankers, der an die AHS getragen wurde, zeigt dies beispielhaft. Die Rede ist von einem Mann, der infolge Therapiewechsels an starken Nebenwirkungen litt und wegen Durchfalls und Übelkeit eine Woche im Büro fehlte. Nach der Absenz wurde er von der Chefin nicht eben herzlich empfangen. Wenn das so weitergehe, monierte sie, werde es nichts mit Bonus und Lohnerhöhung. Die Vorgesetzte wusste nichts von HIV, für den Mann aber war die Sachlage bezüglich Kausalität klar: kein Bonus wegen HIV. Dass die Rüge auch ausgesprochen worden wäre, wenn er aufgrund einer Magen-Darm-Grippe gefehlt hätte, war ihm nicht bewusst.

 

In einem anderen Fall erfuhr eine HIV-Patientin indirekt von ihrer Kündigung. Ihre Stelle als Sachbearbeiterin war in der Zeitung ausgeschrieben. Hier schaltete die AHS einen Anwalt ein, der vor Bezirksgericht eine Nachzahlung von zwei Monatslöhnen erstritt. Möglich sind solche Erfolge jedoch nur, wenn Betroffene bereit und stark genug sind, in die Offensive zu gehen und für ein Recht, das HIV-Negativen per se zusteht, zu kämpfen. So wie jener Lehrling, der eine Ausbildung zum technischen Operationsassistenten absolvieren wollte. Nach bestandener Aufnahmeprüfung für die Berufsschule füllte er den Gesundheitsfragebogen aus und gab an, HIV-positiv zu sein. Daraufhin kündigte ihm die Schule den Ausbildungsvertrag. Begründung: «Gesundheitszustand». Der junge Mann erhob Beschwerde beim kantonalen Bildungsdepartement als zuständiger Behörde und klagte wegen Verstosses gegen das Gleichstellungsgesetz. Er bekam Recht; allerdings erst, nachdem die Beschwerdeinstanz ein infektiologisches Gutachten erstellen liess, das festhielt, dass das Restrisiko einer HIV-Übertragung im Berufsalltag eines Operationsassistenten praktisch gleich null sei.

 

Reichlich unprofessionell handelte ein Akupunkteur und Naturheilpraktiker, der von einem Arzt einen HIV-positiven Patienten zugewiesen bekam. Mit der Begründung, die Haftung für eine allfällige Virusübertragung via Nadeln auf andere Patienten nicht übernehmen zu können, wies er den HIV-Positiven zurück. Und reagierte düpiert, als ihn die AHS fragte, ob er denn seine Nadeln nicht ohnehin nach Gebrauch säubere. Solche Behandlungsverweigerungen durch Ärzte kommen aber selten vor. Handlungsbedarf hingegen gibt es bei der Durchführung von HIV-Tests, wie eine repräsentative schriftliche Befragung von 783 Personen mit HIV im Rahmen eines Nationalfondsprojekts bestätigt hat. Gemäss dieser wurde jeder zehnte Test gegen den ausdrücklichen Willen oder ohne Wissen der Person vorgenommen, was an sich widerrechtlich ist. Über die Möglichkeit eines anonymen Tests, bei dem nur die getestete Person selbst das Ergebnis erfährt, das ergo nicht Eingang in die Krankenakte findet, sind die wenigsten Personen im Bilde.

 

Für rote Köpfe sorgte vergangenen Winter die Meldung des Eidgenössischen Departements für Verteidigung und Sport (VBS) über ein neues Reglement, das HIV-Positive in Therapie automatisch als dienstuntauglich erklärt und nicht zur Rekrutenschule zulässt, und zwar «weil die Medikamenteneinnahme nicht gewährleistet werden kann». Während manch armeekritischer Stellungspflichtiger sich glücklich schätzt über den Befund untauglich, kritisiert die AHS die Regelung als diskriminierend. HIV-Positive seien in vielen Fällen genauso leistungs- und somit dienstfähig wie nicht infizierte Militärdienstpflichtige und sehr wohl imstande, während der 18 Wochen ihre Tabletten zu schlucken. Das VBS seinerseits verteidigt die Regelung. Die Massnahme sei zum Schutz der HIV-Positiven, nicht zu deren Bestrafung, da man ihre Gesundheit im körperlich anstrengenden Militärdienst nicht gefährden wolle. Ohnehin gebe es pro Jahr nur etwa zwei bis drei konkrete Fälle. Jene hätten gut mit dem Bescheid leben können, und es sei noch nie zu einem Rekurs gekommen. Die Vermutung der AHS, das Militär schliesse HIV-Positive aus finanziellen Gründen aus, da während des Militärdienstes die Medikamentenkosten von der Militärversicherung bezahlt werden müssten, lässt das VBS nicht gelten und wirbt für die Alternative: HIV-positive Stellungspflichtige sollen statt Militär- Zivildienst leisten.

 

Weit häufiger konfrontiert sind HIV-Patienten nach wie vor mit Hindernissen, wenn sie in einem anderen Land Ferien machen wollen oder geschäftlich unterwegs sind. Dies obwohl diese Beschränkungen keinerlei Nutzen für die öffentliche Gesundheit haben. Für die USA und China, aber auch Singapur und die Arabischen Emirate gelten offizielle Einreiseverbote, in Russland haben HIV-Positive keine Chance auf eine Arbeitsbewilligung, und in Ungarn und Polen gibt es HIV-spezifische Beschränkungen. Entscheidet sich ein HIV-Positiver, die eigene Infektion nicht auf dem Einreiseformular oder Visumantrag anzugeben, reicht auch ein Blick ins Handgepäck, wo verdächtige Medikamente einen HIV-positiven Reisenden schnell outen. Der 53-jährige René H., der beruflich viel unterwegs ist, lässt darum vor Abreise seine Medikamente vom Apotheker immer in Schachteln für Vitaminpräparate umpacken und streicht beim HIV-Status immer negativ an – ein heikles Unterfangen: Kommen die Immigration Officers dem HIV-Positiven auf die Schliche, wird dies registriert und er wird des Landes verwiesen. Darum haben die Vereinten Nationen 2008 eine internationale Task Force Travel Restrictions ins Leben gerufen, die sich mit dieser Problematik beschäftigt. Denn nicht nur die Grossmächte, weltweit über 60 Länder verbieten oder erschweren HIV-Positiven die Einreise, was im Zeitalter der Globalisierung besonders stossend ist. Betroffen sind auch Jugendliche, die Berufserfahrung im Ausland sammeln möchten oder ein Auslandsemester planen. «Die Einreise- und Niederlassungsbestimmungen vereiteln ihre durchaus legitimen Aus- und Weiterbildungspläne», sagt Linus G. Jauslin von der Stiftung Aids und Kind, weshalb er gemeinsam mit der AHS Ende 2007 eine Petition beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten eingereicht hat.

 

Einen eleganten und vielversprechenden Weg, diese Barrieren abzubauen, hat die Organisatorin der zweijährlich stattfindenden Welt-Aids-Konferenz, die International Aids Society, gefunden. Sie schlägt für die Konferenz 2012 Washington als Tagungsort vor – und zwingt so die USA indirekt, das diskriminierende Einreiseverbot aufzuheben.