PUBLIKATION

Buch «Zum Virus» Verlag Rex

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.12.2010

BIM SIITESPRUNG IM MINIMUM...

 

Die Krankheitsgeschichte von HIV und Aids in der Schweiz ist auch eine Erfolgsgeschichte; geprägt von vorbildlicher Zusammenarbeit verschiedenster Akteure aus Medizin, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

 

Wenn heute häufig die Rede vom «neuen Aids» ist, dann gilt es für Roger Staub, sich erst einmal das «alte Aids», die «tödliche Seuche», zu vergegenwärtigen. Der Abteilungschef Sektion Aids beim BAG, Mitbegründer der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) und profunder Kenner der schweizerischen Aids-Politik, erläutert im Gespräch die enorme gesellschaftliche und politische Kraft, welche die Immunschwäche einst entfaltete, und zwar vorab auch darum, weil sie mit zahlreichen Tabus behaftet war.

 

Aids vereinigte ein spektakuläres Assoziationsfeld mit Sexualität und Tod, Blut und Sperma, Homosexualität, Prostitution, Promiskuität und Drogensucht. Das löste Angst aus und garantierte mediale Aufmerksamkeit. «Diese Konstellation», so auch der renommierte Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock, «bescherte dem Thema Aids eine Prominenz, die sich nicht nur mit der epidemiologischen Gefährdung erklären liess und zeitweise auch hysterisch zu nennen war.» Vorwiegend junge, in der Blüte des Lebens stehende, homosexuelle Männer fielen der rätselhaften Krankheit zum Opfer, weshalb sie zunächst den Namen GRID (Gay-Related Immunodeficiency) erhielt. Nebst Schwulen zählten schon bald auch die intravenös Drogen Konsumierenden, die Fixer, zu den Hauptbetroffenen der inzwischen AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) getauften Krankheit. Die Betroffenen, so die vorherrschende Meinung, seien aufgrund ihrer Neigung (Homosexualität) bzw. ihres Lebenswandels (Drogensucht) selber schuld an ihrer Infektion. Als Kontrapunkt dazu standen die Hämophilen (Bluter), die durch mit HIV kontaminierte Blutpräparate «unschuldig» angesteckt wurden.

 

Erst Mitte der 80er-Jahre gelang es Forschern, die Erkrankung, den Erreger HIV und die Übertragungswege zu identifizieren. «Und somit», sagt Gesundheitsforscher Rosenbrock, «wurde klar, dass nicht nur Risikogruppen, sondern die Gesamtbevölkerung potenziell von der Krankheit bedroht war.» Das eidgenössische Parlament beschäftigte sich in der Herbstsession 1983 zum ersten Mal mit Aids, was den Impuls für weitere Offensiven gab. 1985 wurde hierzulande der HIV-Test und 1987 die anonymisierte Meldepflicht für positive Testresultate (Labormeldepflicht) eingeführt. Gleichzeitig begannen immer mehr staatliche Stellen und Nichtregierungsorganisationen, deren Arbeit in der Bevölkerung viel Respekt und Goodwill genoss, sich aktiv im Kampf gegen Aids zu engagieren. Ihre Arbeitsweise war undogmatisch, von Pragmatik und Tatendrang geprägt.

 

Die Aids-Arbeit setzte neue Massstäbe in der interdisziplinären Zusammenarbeit von Fachleuten aus Medizin, Forschung, Epidemiologie und Sozialarbeit. Das Wort der Stunde hiess Prävention. Zentral hierbei waren die Gründung der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) im Jahre 1985 durch Vertreter von Homosexuellenorganisationen, die Realisierung eines «Konzepts zur Bekämpfung der Aids-Epidemie in der Schweiz» im Jahre 1986, die Einführung der Stopp-Aids-Kampagne 1987 durch das BAG und die AHS sowie die Einsetzung der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) und der Kommission zur Kontrolle der Aids-Forschung (KKAF) durch den Bundesrat 1988. Aus den Lautsprechern tönte landauf, landab Polo Hofers Hitparadenstürmer «Stopp Aids», und der Refrain wurde zum Tenor einer scheinbar unverkrampften, aufgeklärten, sexuell aktiven Bevölkerung: «Bim Siitesprung – im Minimum – en Gummi drum.»

 

Aus Sicht von BAG-Direktor Thomas Zeltner waren es vor allem drei Errungenschaften, die dazu geführt haben, dass die HIV/Aids-Prävention in der Schweiz international als modellhaft anerkannt wurde: der nationale Konsens zu den Zielen einer gemeinsamen HIV/Aids-Politik, die partnerschaftliche Arbeit aller Akteure sowie die integrierte Forschung, zum Beispiel durch die schweizerische Kohortenstudie. Ausreichende personelle wie auch finanzielle Mittel haben dazu beigetragen, dass die Herausforderungen in den drei Kerngeschäftsfeldern Prävention, Therapie und Betreuung gepackt werden konnten. Der Slogan «Stopp Aids» wurde zu einer Marke, welche die soziale Verantwortung mehrerer Generationen auf den Punkt brachte und die sich auch in Statistiken manifestierte: Die Anzahl der neu gemeldeten positiven Tests sank zwischen 1990 und 2000 kontinuierlich. Mit der Gründung des Zürcher Lighthouse im Jahre 1992 wurde schliesslich ein Sterbehospiz eröffnet, das sich spezifisch um die Bedürfnisse von Aids-Patienten im letzten Stadium der Krankheit kümmerte und dessen Pflegepersonal die Bewohner in Würde in den Tod begleitete.

 

Das enorme Engagement stand lange Jahre im Gegensatz zur damaligen Machtlosigkeit der Medizin. Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte sahen sich in der ungewohnt neuen und hilflosen Rolle, viele ihrer zumeist jungen Patienten sterben zu sehen oder sich auf die Behandlung opportunistischer Infektionen zu beschränken. Weder das Medikament AZT als Monotherapie noch die Ausweitung von Mono- auf Bitherapie brachten in der ersten Hälfte der 90er-Jahre den Durchbruch. Die Trendwende bei den Aids-Erkrankungen setzte erst 1995 ein. Es war der Zeitpunkt, als hochaktive, antiretrovirale Kombinationstherapien – abgekürzt HAART – es ermöglichten, bei einer wachsenden Zahl HIV-infizierter Personen das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen und die Zahl der Aids-Neuerkrankungen und letztlich auch der Todesfälle zu reduzieren. Heute werden pro Jahr hierzulande nur noch etwa 180 Aids-Diagnosen gestellt und etwa ebenso viele Aids-Todesfälle registriert. Ein Faktum, das die Aussage des schillernden, 1999 an Aids verstorbenen, deutschen Lebenskünstlers Napoleon Seyfahrt bezüglich der Epidemie in Europa untermauert: «Es gibt mehr Menschen, die von Aids leben, als solche, die daran erkrankt sind.»

 

Mittlerweile hat die Infizierung mit HI-Viren den Charakter einer ernst zu nehmenden, chronischen, aber nicht mehr tödlichen Erkrankung. Durch die wirksame medikamentöse Behandlung haben sich den Betroffenen neue Lebensperspektiven eröffnet. Anhaltende, eindrückliche medizinische Fortschritte geben Betroffenen Anlass zu Hoffnung. Andererseits werden sie mit den mehr oder weniger starken Nebenwirkungen der Medikamente konfrontiert. Denn: Wer mit einer HIV-Therapie beginnt, wird sich in der Regel auf eine lange Therapie einstellen und, unter Umständen, über vierzig oder fünfzig Jahre hinweg Medikamente einnehmen müssen. «Neue Substanzen müssen darum vor allem der Anforderung einer guten Langzeitverträglichkeit genügen», sagt Pietro Vernazza, Facharzt für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen. Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes, bestimmte Krebsformen, hirnorganische Veränderungen, Depressionen, Schlafstörungen und Veränderungen der Fettverteilung können als Begleiterscheinung auftreten und den Alltag beeinträchtigen. Deshalb sind Infektiologen immer mehr dazu aufgerufen, mit Diabetologen, Kardiologen, Nephrologen und Onkologen zusammenzuarbeiten.

 

Was die medizinische Versorgung betrifft, rücken die HIV-positiven Senioren künftig immer mehr ins Blickfeld. Denn obwohl das Image des HIV-Patienten offenbar noch immer einem eher jüngeren entspricht, betrifft die HIV-Epidemie in der Schweiz in zunehmendem Masse die älteren Bevölkerungsschichten. Einerseits, weil die Lebenserwartung HIV-positiver Patienten, wie gesagt, stark gestiegen ist. Anderseits werden immer mehr Neuerkrankungen bei älteren Menschen diagnostiziert. Letzteres hängt damit zusammen, dass älteren Leuten ohne Symptome vom Arzt seltener ein HIV-Test vorgeschlagen wird. Zweitens wird – etwa bei betagten Sextouristen – selbst bei typischen Symptomen nicht auf Anhieb die Diagnose HIV gestellt. Es ist damit zu rechnen, dass in zehn Jahren 45 Prozent der HIV-positiven Menschen zwischen 50 und 60 Jahre alt sein werden. Ihre Aufnahme in Pflegeheime zeichnet sich schon jetzt ab und wird dereinst spezifische neue Kenntnisse beim Pflegepersonal voraussetzen. Forscher gehen auch davon aus, dass HIV-Positive früher altern und somit zehn oder zwanzig Jahre früher von typischen Seniorenkrankheiten betroffen sind, was die Betreuung komplexer machen dürfte.

 

Alarmierend ist für die Akteure der Gesundheitspolitik zweifelsohne der seit dem Jahr 2000 festgestellte Anstieg der Neuinfektionen. Nach Jahren rückläufiger Neuinfektionen nimmt die Anzahl gemeldeter positiver Tests gemäss Bundesamt für Statistik wieder zu: 2006 um 5 Prozent, in den Jahren 2007 und 2008 um je 1 Prozent. «Mit dem Wegfall der Todesbedrohung ist ein starkes Motiv für das Schutzverhalten entfallen», versucht BAG-Chef Zeltner dieses Phänomen zu erklären und äussert damit die Vermutung, wonach die Aussicht auf eine medikamentöse Behandlung der Krankheit ein risikoreicheres Verhalten begünstigt. Länder wie die Schweiz, mahnt Roger Staub, in denen Betroffene Zugang zu Therapien haben, dürften darum in der Prävention keinesfalls nachlassen. «Jedes Jahr wächst eine Vielzahl von Jugendlichen in die sexuelle Reife, und diese Leute müssen wissen, wie man sich schützen kann», fordert auch Aids-Pionier Ruedi Lüthy. Es gelte, so Roger Staub, einer neuen Sorglosigkeit entgegenzutreten, die sich etwa auch darin manifestiere, dass in vielen Schwulenmagazinen zwar tadellose Körper, schicke Unterwäsche und attraktive Reisedestinationen propagiert würden, aber HIV schlicht kein Thema sei. «Das ist für die Prävention fatal», so Staub.

 

Gesundheitsexperten schätzen, dass einer von sechs Schwulen in der Szene HIV-positiv ist, und führen dies auf die grössere Risikobereitschaft als typisch männliches Phänomen zurück. So haben laut Studien immer mehr Männer ungeschützten Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern. Von Clubbetreibern fordert das BAG deshalb, die Prävention wieder verstärkt ins Zentrum zu rücken und Präventionsbotschaften nicht einfach als Partykiller abzutun. Konkret fordert Staub, dass in einschlägigen Lokalen wie Darkrooms, Saunen oder Autobahnraststätten Präservative gratis und sichtbar zur Verfügung gestellt werden. Ohnehin sollen Risikogruppen wieder vermehrt angesprochen und benannt werden dürfen, ohne dass man sich gleich dem Vorwurf der Stigmatisierung aussetzt: Homosexuelle, die ungeschützten Analverkehr praktizieren, Migranten und Migrantinnen aus Ländern mit hoher Prävalenz und intravenös Drogen Konsumierende gehören laut BAG zu den Gruppen mit dem höchsten Präventionsbedarf, ebenso Personen, die sich im Strafvollzug befinden, sowie Prostituierte und Freier. Die steigende Konkurrenz auf dem Strassenstrich führt dazu, dass zunehmend risikoreiche Dienstleistungen zu tiefen Preisen angeboten werden. Das Bedürfnis der Freier nach ungeschütztem Sex ist ungebrochen. Gleichzeitig fällt es Prostituierten schwer, ihre Interessen durchzusetzen. Dies trifft vor allem auf ausländische Frauen zu, die sich nur für kurze Dauer in der Schweiz aufhalten und sich in einer prekären Lebenssituation befinden.

 

Unterschiedliche Meinungen herrschen unter den HIV-Akteuren nach wie vor in Bezug auf die richtige Strategie der Seuchenbekämpfung, wo es zwischen «Old Public Health» und «New Public Health» zu unterscheiden gilt. Es handelt sich um zwei verschiedene Ansätze. Jener der «Old Public Health» umschreibt eine Suchstrategie, welche die Last beziehungsweise die Verantwortung der Seuchenbekämpfung bei denen ortet, die infiziert sind. Im Zentrum stehen dabei zwei Fragen: 1. Wie ermitteln wir möglichst schnell möglichst viele Infektionsquellen? 2. Wie legen wir diese still? Die Strategie der «New Public Health» hingegen umschreibt eine Lernstrategie und überträgt die Verantwortung für die Seuchenbekämpfung der gesamten Bevölkerung. Im Zentrum stehen dabei zwei andere Fragen: 1. Wie erreichen wir es, dass sich die Leute vor dem Virus schützen? 2. Wie können wir uns auf ein Leben mit einem bis auf weiteres unausrottbaren Virus einstellen? Die langfristig richtige Gangart dürfte, wie so oft, wohl auch hier in der Mitte liegen.