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Facts
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

4.4.2002

BEIM LATEIN IST DER PAPST AM ENDE

 

Theologen zeigen Schwäche. In der Geistlichkeit schwinden die Kenntnisse der lateinischen Sprache rapid.

 

Cleto Pavanetto ist ein zurückhaltender Mensch. Doch als sich Ende Februar der Salesianer-Orden zum Jahreskongress versammelte, sprach der Präsident der Vatikanischen Sprachkommission Klartext: «Der Papst kann kein Latein mehr.»


Der Heilige Vater hatte zuvor öffentlich bedauert, dass einzig der Kardinal von Riga noch fliessend Latein spreche - und frevelte selbst: «Paupera lingua Latina ultimum rifugium in Riga habet.»

 

«Tatsächlich», rügt der renommierte Schweizer Altphilologe Kurt Steinmann. «In diesem Satz hat es drei bedenkliche Fehler.» Erstens heisst es refugium, nicht rifugium, zweitens verlangen Städtenamen keine Präposition, und drittens ist «pauper» ein Adjektiv der konsonantischen Deklinationsgruppe. «Pauper lingua Latina ultimum refugium Rigae habet», heisst es korrekt: die arme lateinische Sprache hat ihren letzten Zufluchtsort in Riga.


Der Patzer des Papstes erhellt ein Defizit bei Klerikern. Sie sind, was das Latein angeht, arme Sünder. Während Rentner an Seniorenuniversitäten aus purer Lust Lateinisch büffeln und gregorianische Choräle die Hitparaden erobern, verstehen kirchliche Würdenträger bei Latein oft nur Bahnhof. Grund: Wegen des akuten Priestermangels mobilisieren Universitäten und Priesterseminare das letzte geistliche Aufgebot. Experte Steinmann: «Lateinkenntnisse sind da sekundär.»


Auch in der Schweiz. An der Theologischen Hochschule in Chur wurden bis 1960 die Vorlesungen in Lateinisch gehalten. Sed tempora mutantur - aber die Zeiten ändern sich. Seit das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) für die Gottesdienste in aller Welt die Verwendung der jeweiligen Landessprache erlaubt, ist der Stellenwert des Lateins in der Kirche massiv gesunken.


Ob in Luzern, Basel oder Bern: Die grosse Mehrheit der Studierenden bringt keine Lateinmatura aus der Mittelschule mit. An der Kirchlich-Theologischen Schule in Bern genügt als Aufnahmebedingung ein Berufsabschluss. In zweijährigen Grundkursen mit zwei Lateinlektionen pro Woche bieten die Fakultäten eine Art Schnellbleiche an. «Am Ende sind die Kenntnisse notdürftig», bestätigt Franz Annen, Rektor der Theologischen Hochschule in Chur. Doch das sei besser als gar nichts.


Qua de causa - Woran liegt das? «An intellektuellenfeindlichen Priestern», sagt der Benediktiner-Pater Alois Kurmann, ein glühender Anhänger antiker Sprachen und Präsident des Schweizerischen Altphilologischen Verbandes. Geistliche, die vor lauter beten vergessen, ihren intellektuellen Horizont zu erweitern, gäbe es viele. «Bischof Haas ist das klassische Beispiel.»
Querbeet schlagen heute ausgebrannte Lehrer und Sozialarbeiter eine kirchliche Laufbahn ein. In Einsiedeln hat neulich ein Angestellter der Rhätischen Bahn ein Theologiestudium begonnen. Der Bähnler besass weder Matura noch Lateinkenntnisse. In Luzern immatrikulierte sich eine Krankenschwester. Sie konnte kein Wort Latein - von Griechisch und Hebräisch ganz zu schweigen. An der Kirchlich-Theologischen Schule in Bern wird zwar Latein unterrichtet, bei den Examina jedoch nicht geprüft. Ihr Rektor, Pfarrer Ulrich Gerber, ist gelernter Maschinenzeichner.


Die Elegien von Tibull und Properz? Die Chronik Ottos von Freising? Die Epen von Silius Italicus? Die Romane von Petron und Apuleius? Wer glaubt, die Kleriker von heute könnten sich in der Sprache Augustinus verständigen, huldigt einer frommen Illusion. Bei vielem, was über das Lesen von Jahreszahlen in Kirchenschriften hinausgeht, gerät die geistliche Elite ins Stocken.
Dabei könnte eine gemeinsame Sprache Bischöfe und Äbte von Irland bis Brasilien, von Frankreich bis Indien verbinden. Wenn sich die höchste Geistlichkeit einmal im Jahr in Rom zur Bischofssynode trifft, spricht aber keiner Latein. Bischof Koch: «Wir unterhalten uns lieber in Spanisch, Deutsch, Französisch oder Englisch.»


Res est difficilis - die Sache ist verflixt. Einerseits unterstützt das Internet den Effort, die serbelnde Sprache künstlich zu beatmen, bietet es lateinische Fahrplanauskunft und Nachrichtensendungen. Anderseits hat Latein an Mittelschulen mit dem neuen Maturitätsreglement deutlich an Gewicht verloren. 1981 schlossen knapp 40 Prozent der Maturanden mit Latein ab, 2000 nur noch gut 20 Prozent.


Quantus dolor - wie schade! Hanspeter Betschart, Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät in Luzern, stellt gar unter künftigen Pfarrherren eine «stark reduzierte Lernbereitschaft» fest. Er studierte vor dreissig Jahren in Freiburg und Rom. Die Vorlesungen im Kirchenrecht waren in Lateinisch. «Das ist heute unvorstellbar», sagt Betschart. Er ist schon froh, wenn die angehenden Priester die Allerheiligenlitanei, das Sanktus, Ave Maria, Gloria, Pater Noster und die lateinische Bergpredigt sprechen und sinngemäss verstehen können. So kommts, wie es laut Cleto Pavanetto, dem Sprachvogt aus Rom, kommen musste: «Die Priester können nicht einmal mehr simple lateinische Inschriften auf den Grabsteinen lesen.»


Wie hallte es an Ostern vom vatika-nischen Balkon? Urbi et orbi? Pax vobiscum? «Papa peccat», wäre vielleicht auch passend gewesen. Zu Deutsch: Selbst der Heilige Vater sündigt.
Nicht Sattelfest: Papst Johannes Paul II. am vergangenen Samstag bei der Messe im Petersdom in Rom.

 

 


Sprachtest mit Experten
FACTS befragte telefonisch Personen mit Lateinausbildung. Die Beispiele stellte der Luzerner Altphilologe Kurt Steinmann zusammen.


Quisquis habet nummos, secura navigat aura.

Übersetzung: Jeder, der Geld hat, fährt mit sicherem Wind.


Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas.

Übersetzung: Wenn auch die Kräfte fehlen, so ist doch der Wille zu loben.


Opes regum corda subditorum.

Übersetzung: Die Schätze der Könige sind die Herzen der Untertanen.


Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Übersetzung: Homo homini lupus.


Die Kinder lesen Bücher.

Übersetzung: Liberi libros legunt.


Trinken ist menschlich, also trinken wir.

Übersetzung: Bibere humanum est, ergo bibamus.


Kurt Koch Bischof von Basel, Matura 1970, acht Jahre Latein.
Jeder, der ...? hat, wird mit sicherer Luft lenken.
Wenn die Kräfte nicht mehr sind, ist der Wille zu loben.
Die Werke der Könige sind die Herzen der ...?
Homo homini lupus.
Infans legunt libros.
Bibere humanum est, ergo bibamus.


Felix Gutzwiller Arzt und Nationalrat, Matura 1968, sieben Jahre Latein.
Wer Geld hat, hat eine sichere Ausstrahlung.
Wenn die Kräfte fehlen, ist der Wille zu loben.
Das Königliche ...? sind die Seile der Untergebenen.
Homo hominis lupus.
...? libros legunt.
Bevere humanum est, dunque bibemus.


Martin Werlen Abt von Einsiedeln, Lehrerdiplom 1982, drei Jahre Latein.
Wer ...? hat, schwimmt sicher im Ansehen.
Wo Kraft ist, ist auch der Wille zu loben.
Die Aufgaben der Regierenden sind die Herzen der Untergebenen.
Lupus homini homo.
Infantes legent libri.
Bibere humanum est, ergo bibamus.


Andreas Grandi Theologiestudent Uni Freiburg, Matura 2000, sieben Jahre Latein.
Wer auch immer ...? hat, der segelt mit einer sicheren Umgebung.
Wenn die Kräfte nicht mehr sind, ist der Wille zu loben.
Die Werke der Könige sind die Herzen der ...?
Homo homini lupus.
Liberi librus legunt.
Bibere humanum est, itaque bibemus.


Ulrich Gerber ref. Pfarrer, Rektor der Kirchlich-Theologischen Schule Bern, keine Matura, zwei Jahre Latein.
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Die Schätze der Könige sind die Herzen der ...?
Homo homini lupus.
Infantes libros legunt.
...? humanum est, ergo ...?