PUBLIKATION

Publikation Gesundheitsprävention

ZUSAMMENARBEIT

Beat Ghilardi (Foto)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

25.6.2010

«ICH WAR WELTMEISTER IM LüGEN»

 

Der 62-jährige Ruedi R. erzählt, wie Wein sein Leben bestimmte, weshalb er Mitglied bei den Anonymen Alkoholikern wurde und welche Strategien er entwickelte, um trotz Sucht jahrelang als international gefragter Ingenieur zu arbeiten.

 

Bis zum Alter von 40 Jahren zählten Sie zu den Genusstrinkern. Allmählich wurde aus dem Genuss eine Sucht. Warum ist es soweit gekommen?
Gründe dafür gibt es verschiedene. Auslöser war wohl der Selbstmord meiner Frau. Als dies passierte, habe ich total den Halt verloren. Ich war ein Familienvater mit zwei Kindern im Alter von acht und elf Jahren und wusste nicht mehr weiter. In dieser Phase der Trauer und Einsamkeit begann ich, jeden Abend ein Glas Wein zu trinken, in der Hoffnung, mich damit beruhigen zu können. Doch aus der Beruhigung wurde eine Betäubung, ein unkontrolliertes Berauschen. Mit der Zeit klammerte ich mich buchstäblich an die Flasche, trank immer mehr und immer häufiger vom billigen Merlot, oft mehrere Flaschen pro Nacht.

 

Zu dieser Zeit hatten Sie als Maschineningenieur einen verantwortungsvollen Posten und waren für den Verkauf von Wasserkraftanlagen in den USA und in Kanada zuständig. Konnten Sie trotz den Abstürzen Ihrer Arbeit nachgehen?
Ja, am morgen war ich immer einigermassen fit. Die Arbeit war für mich damals sogar sehr wichtig, denn sie gab mir Halt und Sinn. Diese acht, neun Stunden, in denen ich für die Firma im Einsatz war, musste ich wenigstens nicht über meine Probleme nachdenken. Es gelang mir auch, gegen aussen so aufzutreten, dass der Arbeitgeber nichts von meinen Abstürzen und meinem desolaten, psychischen Zustand, merkte. Ich betrank mich nie in der Öffentlichkeit, sondern praktisch nur zu Hause. Die einzigen, die meine Sucht hautnah miterlebten, waren meine Kinder.

 

Wenn man eine ganze Nacht lang durchtrinkt, ist man anderntags doch nicht leistungsfähig. Der Arbeitgeber merkte nichts?
Bestimmt hatte ich ab und zu eine Fahne, aber da war ich nicht der einzige. Man darf nicht vergessen: damals war noch nicht das Zeitalter von Suchtpräventionsprogrammen und Aufklärungskampagnen. Zudem hatte ich eine Strategie entwickelt. Ich wusste genau, an welchen Tagen ich fit sein musste und wann es nicht so darauf ankam. Dieser Zustand dauerte etwa zehn Jahre an. Erst als ich nach einem schlimmen Absturz in eine psychiatrische Klinik kam, wurde der Arbeitgeber informiert. Mein Chef fiel aus allen Wolken, als er erfuhr, dass ich wegen Alkoholproblemen eingeliefert wurde. Meine Arbeit wurde ja stets sehr geschätzt,  Beanstandungen gab es keine, im Gegenteil! Ich war verantwortlich für Projekte in der Grössenordnung von acht Millionen Dollar und sehr erfolgreich. Unsere Abteilung war hochprofitabel, im Gegensatz zu anderen, die wir quasi quersubventionierten.

 

Fehlten Sie nie bei der Arbeit?
Doch, ich habe jeden Monat meine drei Tage blau eingezogen. Drei Tag konnte man fehlen, ohne ein Arztzeugnis vorweisen zu müssen. Als Begründung für mein Fernbleiben tischte ich alle möglichen Geschichten auf, die keine Zweifel aufkommen liessen, dass etwas nicht stimmen könnte. Ich war Weltmeister im Lügen. Meist sagte ich,  ich hätte eine Grippe, Magenprobleme oder Gleichgewichtsstörungen, was ja nicht einmal ganz falsch war. Als sich diese Absenzen häuften, musste ich einmal zum Personalchef. Er meinte, ich sei etwas oft krank, ob mir etwas fehle. Ich solle mal zum Arzt gehen und mich untersuchen lassen. Ich beschwichtigte: es werde bestimmt wieder aufwärts gehen.

 

Wäre dies nicht der Zeitpunkt gewesen, bei dem Sie Ihre Probleme hätten thematisieren können? Ihr Chef sprach Sie auf Ihre Gesundheit an. Sie hätten sagen können, dass Sie ein Alkoholproblem haben.
Aus meiner Sicht hatte ich eben keine Alkoholproblem! Das war ja das Verrückte. Mir war wohl bewusst, dass ich jeden Tag trank, aber ich fand, ich hätte den Konsum im Griff. Aus dieser Perspektive machte es für mich keinen Sinn, meinem Chef von Problem zu erzählen, die meiner Meinung nach gar nicht existierten. Zudem schwang natürlich auch die Angst mit, den Job zu verlieren. Wer möchte schon einen Alkoholiker beschäftigen?

 

Wie ging es nach dem Klinikaufenthalt weiter? Wartete Ihr Arbeitgeber auf Ihre Rückkehr im Betrieb?
Ja, nach drei Wochen wurde ich aus der Klinik entlassen und in der Firma erwartet. Ich hatte weiche Knie, denn die ganze Firma wusste, warum ich drei Wochen gefehlt habe. Mein Chef versicherte mir jedoch, man wolle mich behalten, unter einer Bedingung: dass ich ein Jahr lang unter ärztlicher Aufsicht Antabus nehme. Ich war einverstanden und machte mit. Ich durfte ganz normal an jenen Projekten weiter arbeiten, die ich vor meiner Abwesenheit betreut hatte. Parallel dazu entstanden die ersten Kontakte zu den «Anonymen Alkoholikern», den AA. Ich lernte dort Leute kennen, die vom Alkohol wegkamen. Das hat mir sehr imponiert. Ich nahm ebenfalls an den Meetings teil. Als die Antabus-Phase vorbei war, blieb ich weiterhin abstinent. Drei Jahre lang dauerte diese Phase der Trockenheit an. Ich fühlte mich geheilt.

 

Danach beschlossen Sie, eine neue Disziplin zu lernen: das kontrollierte Trinken. Wie muss man sich das vorstellen?
Ein paar Monate ging es recht gut. Ich war zuversichtlich und freute mich, jetzt wieder zu den Genusstrinkern zu gehören. An einem Abend während eines Ferienaufenthalts in Italien verlor ich allerdings die Kontrolle. Ich kaufte mir eine Flasche Wodka und leerte diese für mich alleine im Hotelzimmer. Somit wusste ich: Kontrolliert trinken funktioniert bei mir nicht. Es blieb nicht bei dem einen Abend in Italien. Zurück in der Schweiz, stürzte ich wieder regelmässig ab. Am morgen, wenn es mir mies ging, sagte ich zu mir selber, jetzt hör endlich auf mit dem Mist! Aber sobald es Mittag wurde und ich mich wieder besser fühlte, waren alle guten Vorsätze dahin. Dass es bei der Arbeit weiterhin gut lief, war Fluch und Segen zugleich. Denn somit gab es für mich nicht wirklich einen Grund, etwas an meiner Trinksucht zu ändern. Damals war ich auch häufig mit dem Auto unterwegs; stets mit einem gewissen Pegel, wenn ich im Wallis oder im Bündnerland Augenscheine von Kraftwerken vornahm.

 

Nun sind Sie, auch Dank Ihrem Mitwirken bei den AA, seit über 20 Jahren ein so genannt trockener Alkoholiker. Was heisst das?
Dass ich keinen Tropfen Alkohol mehr trinke. Ich habe zum Leben zurückgefunden, zu einem guten Leben, voller Aktivitäten und Zuversicht. Leider wohnen meine beiden Kinder mit den Enkeln im Ausland und wir sehen uns sehr selten. Aber ich habe meine Hobbys, mache grosse Velotouren, gehe Schneeschuhlaufen und unternehme Kajaktouren auf den Flüssen Südfrankreichs. Abends wird in der Gruppe oft fein gegessen und Rotwein getrunken. Auf letzteres kann ich problemlos verzichten.