PUBLIKATION

Zuger Neujahrsblatt
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.1.2008

DIE DROGEN NAHMEN MICH

 

Frühturnen, Psychotherapie und regelmässige Urintests. Die Methoden in der Drogenentzugsstation Sennhütte auf dem Zugerberg sind hart aber erfolgreich

 

Die Bewährungsprobe kommt morgens um Viertel nach acht. Auf dem Mittagsmenüplan der Sennhütte stehen heute selbst gemachte Hamburger; alles ist da: Hackfleisch, Tomaten, Gurken Blattsalat, Mayonnaise, Ketchup - nur das Brot ging beim Einkauf vergessen. «Wie konnte das passieren?», will Leiter Daniel Buff wissen und blickt stumm in die Runde, die sich am grossen Holztisch zur Tagesplanung versammelt hat. Er möchte das Versäumnis geklärt haben und pocht auf eine Erklärung. «Ging halt vergessen», lautet die Antwort, «stand nicht auf dem Einkaufszettel», rechtfertigt sich ein Zweiter, «ist doch nicht so tragisch», nervt sich ein Dritter.

 

Alltag in der Sennhütte. Die neun Bewohner der Fachinstitution für Suchttherapie sind sich solcherlei Diskussionen gewöhnt. Einkaufen, Putzen, Waschen, Kochen, Aufräumen. Es sind die vermeintlichen Bagatellen des Zusammenlebens, welche die Gruppe hier auf Trab halten und immer wieder für Gesprächs- und Zündstoff sorgen. Zwar haben sie sich alle freiwillig für die Suchttherapie entschlossen, doch die gruppendynamischen Prozesse zerren manchmal ganz schön an den Nerven. Wer sein Zimmer in der temporären Schicksalsgemeinschaft auf dem Zugerberg erst einmal bezogen hat, realisiert schnell: Die Sennhütte ist kein Ferienlager. Suchtbekämpfung ist Schwerstarbeit. Nur wer will, hält hier durch.

 

Tom, 25 Jahre alt, nickt. Angefangen hat es mit dreizehn Jahren. Er kiffte zuerst am Wochenende, dann öfters auch unter der Woche, irgendeinmal griff er täglich zum Joint. Mit achtzehn probierte er das erste Mal Ecstasy, dann konsumierte er auch LSD und Speed. Am Anfang aus purer Neugierde, später dienten ihm die Drogen als Problemlöser, wenn es Ärger im Job, mit der Freundin oder den Eltern gab. «Die Probleme lösen sich im Rausch auf, wenn man LSD nimmt.» Doch die psychoaktive Reise der Gefühle, wie er sie nennt, führte ihn vom Glückstrip auf den Horrortrip. Ton sah Gläser, die sich vor seinen Augen verformten, Käfer, die aus seiner Haut krabbelten, kleine Männchen, die lachend um ihn herum tanzten und Wände, die in Bewegung gerieten. «Ich nahm keine Drogen, die Drogen nahmen mich», erinnert er sich und erwähnt Straften, die mit dem Wort «Jugendsünde» nicht adäquat umschrieben wären, und durch die er in derart eklatanter Weise seine Umwelt schädigte, dass es ihm schwer fällt, davon zu reden. Den Schlusspunkt seiner Drogenkarriere markierte  ein massiver Kokainkonsum, den ihn in einen komatösen Zustand mit Lähmungserscheinungen versetzte. Er konsultierte seinen Hausarztarzt und erzählte, wie es um ihn bestellt war. Dieser wies ihn auf zwei Optionen hin: Weitermachen wie bisher oder sofort aufhören, ansonsten er seinen 30. Geburtstag nicht mehr erleben werde. Den körperlichen Entzug  bewältigte Tom – wie alle Bewohner der Sennhütte – innert ein paar Wochen. Auf dem Zugerberg folgt nun die psychisch weitaus intensivere Phase der Entwöhnung.

 

Im offiziellen Sennhütte-Chargon heisst das: Die Erarbeitung grösstmöglicher Autonomie in allen Lebensbereichen ohne harte Drogen. Jeder Bewohner wird sozialpädagogisch und psychotherapeutisch begleitet, erklärt Christoph Haas, langjähriger Leiter der Sennhütte und ausgewiesener Experte auf dem Gebiet. Es gehe um eine Art Neuorganisation der inneren Bühne (Seele) und äusseren Bühne (Körper), die Suchtkranke zu einem Neustart im Leben befähigen soll. Eine Mahlzeit zubereiten, eine Toilette putzen, einen Tisch decken – viele Drogensüchtige müssten das erst (wieder) lernen. Das Sennhüttekonzept baue auf zwei Säulen. Es gibt den sozialpädagogischen Bereich mit den Lernfeldern Arbeit, Haushalt und Freizeit und den psychotherapeutischen Bereich, der die Psychotherapie in den Alltag integriert. Letzteres ist es denn auch, was die Sennhütte von zahleichen anderen Institutionen abhebt Dreimal die Woche treffen sich die Bewohner zur Gruppentherapie. Einmal pro Woche hat jeder psychotherapeutische Einzelsitzung. «Fit für draussen», sollen die Bewohner werden, sagt Haas und verteidigt zäh die starren Strukturen, die herrschen und von den Leuten zeitweise nur schwer ertragen werden. Fix definiertes Taschengeld, pünktliches Lichterlöschen, maximal erlaubte Musiklautstärke. «Wer sich als erwachsener Mensch sich zu einem solch rigidem Tagesablauf entschliesst, muss schon hoch motiviert sein. Sonst hält er das nicht aus» Und trotzdem: die wirklich grosse Probe folgt erst nach dem Austritt. Denn in der wieder gewonnen Freiheit des Zivillebens ist es bedeutend schwerer, den Drogen zu widerstehen als im eng gesteckten Rahmen der Sennhütte.

 

Es ist mittlerweile zehn Uhr und alle Bewohner sind mit Arbeit beschäftigt: In der Metallwerkstatt, in der Schreinerei oder im unbeliebten Hausdienst, wo Pierre, 30 gerade Tomaten, Zwiebeln und Gurken schnippelt und das selbst gebackene Brot – das beim Wocheneinkauf vergessen ging – für die Hamburger aus dem Ofen holt und zum Auskühlen auf ein Gitter legt.  In blauem Trainingsanzug und farblich abgestimmten Adiletten steht er in der Küche und schaut grimmig durch die Brillengläser. Gerade hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Kollegen, der mit Dreckschuhen die Küche betreten und den Boden anschliessend nicht geputzt hat. «Das ist doch einfach Scheisse!», ruft Pierre aus und wirft entnervt den Putzlumpen in die Ecke. «Bin ich hier die Putzfrau?» Als er sich beruhigt hat, lehnt er sich an die Küchenkombination und erzählt von seiner Vergangenheit.

 

Aufgewachsen ohne Eltern als Strassenkind in Rio de Janeiro, die Nächte verbracht in einer Kartonschachtel, Leim gesnifft, um den Hunger zu vergessen. Mit 12 Jahren durch ein Hilfswerk in die Schweiz geholt, von Schweizer Eltern adoptiert, die altersmässig seine Grosseltern hätten sein können. Zwei Jahre lebte er dort, dann gaben die Adoptiveltern ihn ins Kinderdorf Pestalozzi. Als er dafür zu alt war, kam er von Heim zu Heim. Das erste Mal zu Drogen griff er erst mit 27 Jahren, dafür umso intensiver. «Mir fehlte ein Elternhaus, das mir Geborgenheit gab.», fügt er als Erklärung an. «Ich fühlte mich nie geliebt.» In zwei Monaten ist Pierres Therapie in der Sennhütte zu Ende. Aufgeregt erzählt er von einem Job als Hauswart, den er anschliessend eventuell in Aussicht hat. «Es muss einfach klappen. Dann kann ich mir eine Wohnung suchen und endlich auf eigenen Füssen stehen.»

 

Auf Genesung hoffend hausen viele Menschen im Verlies nicht nur ihrer ehemaligen Süchte sondern eben auch Sehnsüchte. Fragt man die Leute nach ihren Idealen fürs Leben, tönt es meist ganz nüchtern: Weg von den Drogen kommen, eine Freundin haben, eine Familie gründen, Geld verdienen. Nicht alle Bewohner der Sennhütte führten vor der Therapie ein gänzlich asoziales und abgedriftetes Leben. Einige waren gesellschaftlich integriert und gingen einer geregelten Arbeit nach. Manche kommen aus intakten Familien, andere aus desolaten Verhältnissen. Immer aber sind es – der Drogenstatistik entsprechend – deutlich mehr Männer als Frauen, welche die staatlich organisierte Entzugshilfe annehmen. In den ersten drei Wochen nach Eintritt gilt für alle eine Kontaktsperre. Wer rückfällig wird, wird für 48 Stunden in die Klinik in Oberwil eingewiesen und kann nur  ausgenüchtert wieder in die Sennhütte. Null Toleranz lautet das Credo, auch bezüglich Alkohol, der den Klienten im und ausser Haus verboten ist. Die Teilnahme an der Psychotherapie ist für alle obligatorisch, die Anwesenheit an den Gruppentherapien ebenfalls. Motivierend dürften sich die Erfahrungswerte auswirken, wonach der definitiv Drogenausstieg bei 80 Prozenten der Klienten gelingt.

 

«Nur kein Rückfall», sagt Vincent, seit zwei Monaten clean. «Das wäre für mich ein Desaster.» Der 30jährige verdiente als umsatzbeteiligter Angestellter einer Elektrofirma monatlich bis zu 12 000 Franken, wobei am Ende seiner Suchtkarriere 9000 Franken davon für Kokain draufgingen. Kein Mensch käme auf die Idee, dass der rundliche Italoschweizer mit den freundlichen Augen über Jahre hinweg täglich vier Gramm Kokain konsumierte und am Wochenende seinen Cocktail zusätzlich mit LSD und Ecstasy anreicherte. Arbeitskollegen und Eltern haben nichts von seiner Sucht gemerkt. Seine Freundin war es, die das Elend nicht mehr mit ansehen wollte und ihm ein Ultimatum stellte. «Ohne sie hätte ich mich nicht für den Entzug entschieden», räumt Vincent ein und öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Er zeigt Fotos und in Mundart verfasste Liebesbriefe seiner Freundin, die sie ihm per Post in die Sennhütte geschickt hat. «Ich glaube a Dich. Du schaffsch es. Mier schaffits zäme.»

 

Die Kraft für den Ausstieg holt jeder und jede woanders. Freizeitaktivitäten und obligatorische Kursbesuche unterstützen die Bewohner in ihrem Ziel. Ersin macht Krafttraining, Tom trainiert regelmässig Wrestling, eine amerikanischen Ringsportart, für die er demnächst einen Wettkampf bestreitet, Antonio interessiert sich für Literatur und Philosophie und Vincent baut in seinem Zimmer an einem über tausendteiligen Modellrennwagen, der langsam Form annimmt. In der Sennhütte hat er auch seine Leidenschaft fürs Gärtnern entdeckt. Salat, Tomaten, Spinat, Peperoni, Radieschen, Lattich, Bohnen, Karotten, Zwiebeln, Aubergienen, Zuchetti, Kohlrabi, Knoblauch, ja sogar Kichererbsen gedeihen in den Beeten hinterm Haus, durch die Vincent die Besucherin sichtlich stolz führt.  Ja, der Eindruck täusche nicht, meint er, er fühle sich in der Sennhütte sehr wohl, es gefalle ihm sogar «mega» und er fühle sich stark. «Doch ich spüre auch einen grossen Druck. Die Gemeinde und der Staat, ermöglichen mir finanziell diesen Neuanfang. Ich weiss, dass das nicht selbstverständlich ist und darum muss ich es packen.»

 

So unterschiedlich die Klienten und ihre Biografien in der Sennhütte sein mögen, so schnell fällt der Besucherin aber auch auf: Diese Menschen sind nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft. Sie haben sich gegenseitig etwas zu sagen und fühlen sich einander nicht selten sogar herzlich verbunden. Enttäuschung, Angst, Hoffnung, Frust und Freude – alles kommt in der Sennhütte zur Sprache, muss zur Sprache kommen, weil man Tür an Tür wohnt, arbeitet, schläft und isst. Karim wollte Antonio neulich keine Zigarette geben, weil er selber nur noch wenige hatte. Es kam zu verbalen Attacken, die später in der Gruppentherapie thematisiert und analysiert wurden. Ein wichtiger Bestandteil der Drogentherapie: Konflikte austragen, sich ihnen stellen, statt sie im Rausch zu eliminieren. «Die Sennhütte schweisst uns zusammen», sagt Vincent und zeigt auf die Bilderrahmen im Gang mit Fotos von der gemeinsam erlebten Wintersportwoche. Wie vergnügt und unbeschwert sie aussehen, diese Sonnen gebräunten Gesichter vor dem Panorama idyllischer Bergspitzen. Mit Augen wie Fenstern, die nichts vom Rausch ahnen lassen, der hätte tödlich enden können.

 

«Drogen sind eine Flucht», sagt Antonio. Der 43 Jährige ist  der Älteste im Haus und geht am Holzstock. Nicht dass er verletzt wäre, das Accessoire sei mehr ein Glücksbringer und Kraftspender «Ein Geschenk aus Ghana. Es gibt mir positive Energie». Antonio lässt sich langsam auf einem Stuhl nieder. Als Jugendlicher reiste er nach Indien, verbrachte mehrere Monate in den Meditationscamps von Bagwhan, auf der Suche nach Sinnstiftung und Spiritualität. Auf dem Weg zum kosmischen Bewusstsein entdeckte er die Drogen,  kam vom Marihuana zum Heroin, vom Heroin zum Methadon, vom Methadon zum Kokain. Er wurde zum Geisterfahrer seines Lebens. Statt der erhofften Erleuchtung erlebte er den körperlichen und seelischen Zerfall, den finanziellen Ruin und den totalen Kontrollverlust. «Kokain ist eine Hure, die die Beine öffnet. Heroin eine Mutter, die Dich in den Arm nicht. Da bist Du wehrlos», sagt er und blinzelt mit den Augen. Seht her, scheinen die sagen zu wollen, es gibt mich noch.

 

Ziseli, die schmusebedürftige Hauskatze schleicht vorbei, macht es sich auf dem Sofa bequem und lauscht gebannt dem Traum, der Tom erzählt: Ein weisses Kokainmonster kam auf ihn zu. und wollte ihn packen. Er versteckte sich hinter dem Schrank, doch das Monster war stärker und schob den Schrank zur Seite. Es kam immer näher und näher und streckte seine grossen Hände aus. Hat er die Flucht im Alptraum geschafft? «Ich weiss es nicht. Ich bin in diesem Moment erwacht.»