PUBLIKATION

Schweizer Familie
 

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

4.4.2007

«ICH WILL FARBE BEKENNEN»

 

Der gebürtiger Sri Lankese Rupan Sivaganesan wird in der Innerschweiz gerne als Vorzeigausländer zitiert. Doch das will er gar nicht sein.

 

Zugeben: Es gibt Aufregenderes als die Sitzungsliste des Zuger Kantonsrats, wo heute Investitionsbeiträge, Hochspannungsleitungen und Veloabstellplätze traktandiert sind. Die Tatsache aber, dass Rupan Sivaganesan an diesem sonnigen Frühlingsmorgen im Ratssaal sitzt, diskutiert und abstimmt, grenzt an ein kleines Wunder.

 

Im vergangenen Herbst gewann der 25jährige zwei Wahlkämpfe innert nur drei Wochen. Zuerst ergatterte er einen Sitz im Zuger Stadt-, kurz darauf einen im Kantonsparlament. «Von einem Doppelsieg wagte ich nicht zu träumen», erinnert sich der Milizpolitiker und zeigt ein Lächeln. Er, der 1996 als Minderjähriger ganz allein von Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet ist, gilt heute als bekannter und viel beachteter Akteur auf dem Innerschweizer Politparkett. So bekannt, dass er von seiner Partei, der Sozialistisch-Grünen-Alternativen, jetzt für die Nationalratswahlen nominiert wurde. Sein Leben gäbe  seiner wilden Verflechtung von Hoffnung, Glück und Tragik Stoff gleich für mehrere Melodramen ab.

 

Das erste Kapitel spielt 1981 im kleinen Städtchen Thanchankulam, wo Rupan als Sohn eines Bauern zur Welt kommt. Alles deutet auf eine glückliche Kindheit hin. Die Familie hat genug zu essen, der Vater Arbeit und die Mutter sorgt liebevoll für die Kinder. Rupan und seine jüngeren Geschwister besuchen die Schule im Städtchen Vavunja.

 

Vom Bürgerkrieg, der seit 1983 in seinem Heimatland herrscht, bleibt die Familie lange verschont – bis 1988 das Srilankische Militär in die Region vorrückt und die Vertreibung der tamilischen Minderheit auch hier Realität wird. Rupan ist damals sieben alt. Dass der politische Konflikt zwischen Tamilen und Singhalesen immer auswegloser und brutaler wird, versteht er nicht, nur dass die Angst seiner Eltern immer grösser wird. Aus dem Dorf verschwinden Bekannte und Verwandte. Landesweit werden tausende von Tamilen enteignet, fortgetrieben, ermordet. «Ich erinnere mich an Hundegebell und Schüsse», erzählt Rupan. Auf dem Hof der Sivaganesans fehlen plötzlich Maschinen, Geräte und Werkzeuge, ohne die der Vater den Acker nicht bestellen, kein Gemüse verkaufen und kein Geld verdienen kann. Als der Vater eines Tages – und zum ersten Mal in seinem Leben – mit Lederschuhen vor dem Haus steht, realisiert Rupan: Der Vater geht weg, verlässt die Familie.

 

Fortan meldet er sich nur noch telefonisch. Wenn er anruft, mahnt er seinen ältesten Sohn eindringlich mit den immer gleichen Sätzen: «Hilf Deiner Mutter. Iss gut. Und vor allem, lerne fleissig für die Schule.» Drei Jahre lang lebt die Familie ohne den Vater und hofft, die Situation werde besser. Doch es wird nicht besser. Es wird schlimmer. Eines Tages wird Rupans Onkel entführt und ermordet. Die Sicherheitskräfte beschuldigen ihn, die Separatistengruppe Tamil Tigers unterstützt zu haben. Die Anschuldigungen sind haltlos, doch das kümmert niemand. Der Onkel, das ist sein Pech, gehört der «falschen» Ethnie an.

 

Als Rupan vierzehn ist, wird er selber von tamilischen Splittergruppen angefragt, als Soldat zu kämpfen. Doch der Teenager lehnt ab. Mit den Leuten, die seinen Onkel getötet haben, will er nichts zu tun haben und sowieso muss er befolgen, was sein Vater verlangt: Der Mutter helfen, genügend essen und für die Schule lernen. Wieder verschwinden unschuldige Nachbarn. Schulfreunde, die nichts verbrochen haben, werden schikaniert und drangsaliert – weil sie Tamilen sind. Wer ist als nächster dran? Sorgt sich die Mutter. «Als ältester Sohn kommt man da unter Druck, fühlt sich verantwortlich», erzählt Rupan, der das Verdikt der Familie, ihn  nach Europa loszuschicken, sofort akzeptiert. Es ist im Winter 1996, als Rupan in der Srilankesischen Hauptstadt Colombo ein Flugzeug besteigt und seine Reise in die Zukunft startet. Der junge Politiker spricht nicht gerne über die sechsmonatige Flucht. Man spürt, dass es eine sehr harte und schmerzvolle Erfahrung war. Eine Erfahrung, die ihn vorzeitig reifen liess und sein Gefühl für Solidarität und gegenseitigen Respekt stärkte.

 

Im Sommer 1996 gelangt der damals knapp 15-Jährige alleine in die Schweiz. Anfänglich leidet er stark unter der Trennung von seiner Mutter und seiner Schwester, die beide immer noch in der Heimat leben. Sie wiederum sorgen sich um den geflüchteten Rupan, der in Europa ganz auf sich allein gestellt ist. Wo ist er jetzt? Wie geht es ihm? Wird er gut behandelt? Rupan schickt immer mal  wieder einen Brief nach Hause, und beruhigt: alles werde gut, verspricht er und will das auch selber glauben. Die erlebten Demütigungen und lebensbedrohlichen Ereignissen auf der Flucht erwähnt er in den Briefen mit keinem Wort. «Ich wollte nicht, dass sich meine Mutter Sorgen macht.»

 

Rupan muss – da noch minderjährig – nur eine Woche in der Asylunterkunft in Chiasso verweilen. Danach darf er direkt zu seinem Vater, der inzwischen in Zug den Status als vorläufig Aufgenommener und eine Anstellung in einem Restaurant gefunden hat. Rupan stellt ebenfalls einen Asylantrag und wird bei der Zuger Integrationsschule angemeldet. Drei Monate nach seiner Ankunft drückt Rupan bereits die Schulbank.  Er ist motiviert, büffelt und lernte im Eilzugstempo Deutsch. Aber eine Frage beschäftigte ihn Tag und Nacht: Wann würde die Mutter und die Schwester nachreisen? Vier Jahre lang muss er auf sie warten. «Eine harte Zeit.» Hart auch, weil Rupan ein Aussenseiter ist. Während seine Landsleute am liebsten in der tamilischen Gemeinschaft verkehren, sucht Rupan von Anfang an den Kontakt zu den Schweizern. «Ich realisierte schnell: wenn ich in der Schweiz weiterkommen und mich integrieren wollte, musste ich nicht nur unter Landsleuten bewegen, sondern auch mit Schweizern.» Er engagiert sich alsbald im Integrationsnetz, einer Vereinigung zur Integration von Immigranten, wird Mitbegründer der Ausländervereinigung Katamaran, Vorstand in der Gewerkschaft und hilft bei Projekten gegen Zwangsheirat – ein Thema das auch Tamilen betrifft.

 

Der Kontakt zur Politik kommt eher zufällig zustande. Im selben Haus wie das Integrationsnetz hat auch die Partei der Sozialistisch Grünen Alternativen ihre Büroräumlichkeiten. Auf diese Weise lernt Rupan die Leute des Partei-Vorstands, deren politische Inhalte, den damals noch amtierenden linken Polizeidirektor Hanspeter Uster und den heutigen linken Bildungsdirektor Patrick Cotti kennen. Beide sind sie vom Ehrgeiz und Engagement des jungen Tamilen beeindruckt und ermutigen ihn, in die Politik einzusteigen. Rupan wird als Parteimitglied aufgenommen und findet schnell seine Kernthemen, für die er sich fortan stark machen will. Es sind jene Bereiche, die ihm - bedingt durch die persönlichen Erfahrungen als Teenager -  am meisten am Herzen liegen: soziale Gerechtigkeit, Bildung und Integration.

 

Für die SGA wird schnell klar: Rupan wäre ein Top-Kandidat für die kommenden Gemeinderats- und Kantonsratswahlen. Nicht nur verkörpert er auf ideale Weise, was mit intensiver Integrationsanstrengung alles erreicht werden kann. Er verfügt mit seiner Offenheit und Glaubwürdigkeit auch über jene Eigenschaften, die ein politisches Amt erfordert. Die Sache hat nur einen Haken: Rupan Sivaganesan besitzt die für politische Ämter nötige Schweizer Staatsbürgerschaft nicht. Darum geht es dann Schlag auf Schlag: Rupan stellt im Oktober 2004 ein Einbürgerungsgesuch, wird im Juli 2006 eingebürgert und dann sofort von der Partei nominiert. Was er sich nie erträumen liess, wird im Herbst 2006 wahr: Er schafft – auch dank der Unterstützung von vielen Bürgerlichen, die dem gebürtigen Tamilen ein politisches Amt zutrauten – je einen Sitz in beiden Parlamenten.

 

«Farbe bekennen» hiess der Slogan auf den Wahlplakaten, auf denen Rupan im pinkfarbenen Hemd posierte. Er meint damit: Hinstehen und sagen, was man denkt, zu seinen Überzeugungen stehen. Dieser Tage reicht er seinen ersten politischen Vorstoss ein: eine Motion, die verbindliche Sprachkenntnisse für Ausländer fordert und diese zur Voraussetzung für eine Niederlassungsbewilligung machen will. «Sprache», sagt er, «bedeutet Teilhabe an der Gesellschaft.» So könne man Integrationsdefizite besser beseitigen. Viele Migranten, kritisiert Rupan, hätten sich trotz jahrelangem Aufenthalt in der Schweiz um den
Spracherwerb gedrückt, zum Teil, weil das Angebot nicht optimal oder zu teuer war, zum Teil auch aus Bequemlichkeit. Seine Idee stösst auf grosses Echo und findet Unterstützung bis ins bürgerliche Lager, was ihn besonders freut.

 

In den Medien vernimmt Rupan Sivaganesan immer wieder von überfüllten Schlepperbooten und Menschen, die ihren Tod auf der Flucht finden. «Mir ist es besser ergangen und daraus resultiert die Energie für mein politisches Engagement.» Sein Arbeitspensum als Drucker hat er auf 80 Prozent reduziert, um sich seriös auf die Parlamentsdebatten vorbereiten zu können und Verpflichtungen in den Vereinen wahr zu nehmen. «Die Arbeit verstehe ich auch als Dank an dieses Land, das mich aufgenommen hat», sagt er, betont jedoch: «Ich will nicht als ein Vertreter von den 40 000 Tamilen in der Schweiz angesehen werden, sondern als einer von 7 Millionen Menschen, die hier Leben.»

 

Mehr als berechtigt ist der stolze Rückblick auf diese eindrückliche Karriere, voller Verwunderung darüber, dass die Flucht von Colombo nach Zug gelungen ist.