PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

18.11.2013

AUGENMASS STATT TASCHENRECHNER

 

Die Innerschweiz setzt auf das prüfungsfreie Verfahren beim Übertritt von der 6. Klasse in die Folgeschule. In über 95 % der Zuweisungen sind sich Lehrer, Eltern und Schüler einig.

 

Wer das inoffizielle Sorgenbarometer junger Familien vor Augen hat, muss zum Schluss kommen, diese hätten vorab deren zwei: die ungerechte Aufteilung der Hausarbeit zwischen Mann und Frau und den Übertritt der Kinder ans Gymnasium. Von intensiven und teuren Vorbereitungskursen ist die Rede, von bis zur Erschöpfung büffelnden Jugendlichen, von Drill und Gerangel und – je nach Testresultat – von grossem Jubel über einen gesicherten Platz am Gymnasium oder massloser Enttäuschung über einen negativen Bescheid.


Wer solches hört oder liest, ist zuweilen froh, seinen Wohnsitz im Kanton Zug, Luzern, Schwyz, Uri, Nid- oder Obwalden zu haben. Dort vertraut man bei der Zuweisung von Sechstklässlern weniger solchen Testergebnissen. Vielmehr baut man auf mehrjährige Erfahrungswerte, intensive Gespräche und Pädagogen, die die Leistungsentwicklung eines Kindes zwar nicht vorausahnen, aber zumindest realistisch einschätzen können.

 

Die Antwort auf die Frage, ob sich Lehrer, Schüler und Eltern auch ohne aufwendig inszenierte Aufnahmeprüfung darauf einigen können, wie die Schullaufbahn für ein Kind nach der 6. Klasse weitergeht, liefert der Kanton Zug seit über zwanzig Jahren. Laut Statistik herrschte im Schuljahr 2013 in 96,5 Prozent der Fälle Einigkeit. Für Markus Kunz, bei der Zuger Bildungsdirektion zuständig für das Übertrittsverfahren, stellt dieser Wert allerdings keine Überraschung dar, weil auch in anderen Jahren ähnliche Übereinstimmung ge herrscht habe und das Verfahren für alle Beteiligten grossmehrheitlich «stress- und komplikationsfrei» vonstatten gehe. Durchaus setzen die Lehrer im zweiten Semester der 5. und im ersten Semester der 6. Klasse im Rahmen des regulären Unterrichts vermehrt Prüfungen an, um repräsentative Notenwerte zu erhalten. Eine zusätzlich organisierte Prüfung, die auch von der Tagesform des Kindes abhänge, sei deshalb nicht nötig, meint Kunz. Im Kanton Zug existieren keine fixen Richt- oder Mindestwerte. Ein Schnitt von einer 5,08 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Mensch und Umwelt in den erwähnten Semestern kann für oder gegen eine Zuweisung zum Gymnasium sprechen – je nachdem, wie der Lehrer das Leistungsvermögen des Schülers einschätzt. Probleme mit sogenannten «Kampfeltern», die Zuweisungen anfechten, sind auch laut Aldo Magno vom Amt für Gymnasialbildung des Kantons Luzern die absolute Ausnahme. «Vernunft herrscht vor», sagt er.


Im Kanton Schwyz, wo es die Langzeitgymnasien nur auf privater Ebene gibt, wechseln die Kinder nach der 6. Klasse ohnehin in die Sekundar- bzw. Realschule: prüfungsfrei. Auf Kommastellen errechnete Notenwerte kennt man nicht, stattdessen setzt man grossmehrheitlich auf die Einschätzung des Lehrers und der Eltern und berücksichtigt die gesamte Leistung und Entwicklung während der Primarschullaufbahn. «Das funktioniert», so Bruno Wirthensohn vom Amt für Volksschulen des Kantons Schwyz. «Lehrpersonen und Eltern sind gemeinsam imstande zu beurteilen, welche Schulform für das Kind die beste ist.» Es gelte herauszufinden, wie das Kind mit Leistungsdruck umgehe und welche Motivation es für die Schule mitbringe. Rekurse gibt es auch in Schwyz höchst selten. Erst in der 8. Klasse müssen Schwyzer Jugendliche, die ans Gymnasium wechseln möchten, eine Prüfung ablegen. Das sei, meint Wirthensohn, früh genug. In der Innerschweiz liegt die Maturitätsquote mit 18,7 Prozent leicht unter dem Schweizer Schnitt (19,6 Prozent).


Dass Lehrer der 6. Klasse ohne den «Beweis» einer Aufnahmeprüfung einem verstärkten Druck seitens überambitionierter Eltern ausgesetzt sein sollen, wie oft behauptet wird, können die Bildungsverantwortlichen aus der Innerschweiz nicht bestätigen. «Der Entscheid wird gemeinsam getroffen. Zudem zieht sich der Prozess über zwei Jahre hin, ist institutionalisiert und sieht eine umfassende und transparente Beurteilung vor», so Kaspar Bättig, Geschäftsführer des Luzerner Lehrerinnen- und Lehrerverbands (LLV). Die Abschaffung der Sekundarschulprüfung vor rund zwanzig Jahren wertet er als Errungenschaft, weil die mit beträchtlichem Aufwand herbeigeführten Resultate in den meisten Fällen bestätigt hätten, was man ohnehin schon gewusst habe. Entsprechend käme für Bättig die Einführung einer Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium einem bildungspolitischen Rückschritt gleich.


Während in Zürich eine intensive Debatte darüber läuft, ob die an der Gymi-Prüfung gestellten Aufgaben mit oder ohne private Nachhilfestunden zu bewältigen sind, ob der Test sozial tiefen Schichten zum Nachteil gereicht, sieht man die Sache in den Innerschweizer Kantonen pragmatisch. Dort werden Eltern und Kinder bereits ab der 4. Klasse regelmässig zu Gesprächen eingeladen und auf den Übertritt vorbereitet. Parallel dazu findet eine individuelle Förderung im Schulzimmer statt, um das Kind an sein schulisches Ziel heranzuführen, ob dies nun Werk-, Real-, Sek- oder Mittelschule sei.


Unbestritten ist, dass im prüfungsfreien Verfahren die Einschätzung des Klassenlehrers einen hohen Stellenwert geniesst. «Doch daran gibt es nichts auszusetzen», findet Gabrielle von Büren, Direktorin der Kantonsschule Alpenquai in Luzern. «Wir erhalten die richtigen Schüler, vertrauen auf die abgebenden Schulen, insbesondere auf das Urteil der Lehrpersonen, die ihre Zuweisungsempfehlungen gut begründen müssen.» Ivo Frey, Rektor des Kollegiums Altdorf im Kanton Uri, lobt das «gute Augenmass» der Primarschullehrer und deren Fähigkeit, sich vom Schüler ein «ganzheitliches Bild» zu machen. Dass ein Lehrer seine Zuweisung von Sympathien oder Antipathien gegenüber einem Kind abhängig macht, glaubt Frey nicht, zumal die schulrätlichen Organe formell für die Zuweisungen zuständig seien und intervenieren würden, falls Pädagogen nicht nachvollziehbare Entscheidungen träfen.


Nicht als unfair, aber als überflüssig erachtet man in der Innerschweiz eine Zusatzprüfung. Dies zeigte sich, als vor zwei Jahren im Kanton Nidwalden ein Parlamentarier die Wiedereinführung der Mittelschulprüfung forderte. Regierungs- und Kantonsrat lehnten das Ansinnen ab und riefen dazu auf, die Aufnahmeprüfung «in der Mottenkiste» zu lassen. Aufwand und Ertrag, argumentierte der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid, stünden in keinem Verhältnis. «Die 23-jährige Praxis hat sich bewährt. Klagen zum heutigen Übertrittsverfahren liegen keine vor.» Im Gegenteil: Der Verzicht auf eine Aufnahmeprüfung habe sich für Schule, Schulkinder und Eltern beruhigend auf die 6. Klasse der Primarschule ausgewirkt.


Derweil werden die Ideen, wie dem Zürcher Gymi-Stress beizukommen sei, immer abwegiger: So wollte die Zürcher Regierung die Gemeinden kürzlich per Gesetz dazu verpflichten, kostenlose Vorbereitungskurse anzubieten, die allen Aspiranten des Gymnasiums zur Verfügung stehen müssen. Das könnte man als indirektes Eingeständnis dafür interpretieren, dass die Volksschule nicht imstande ist, einen ihrer Grundaufträge zu erfüllen, nämlich die adäquate Vorbereitung aller Kinder auf eine ihren Fähigkeiten entsprechende nachfolgende Bildungsstufe.