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TEXT

Sabine Windlin

DATUM

7.6.2001

IM FRONTEINSATZ

 

Der einstige Armeeabschaffer Andreas Gross tourt durchs Land, um für bewaffnete Auslandeinsätze zu werben. Und versteht sich dabei als Pazifist.

 

Will Andreas Gross Gelassenheit ausdrücken, nimmt er alle Energie aus der Stimme. Nein, er habe sich nicht verändert. Nein, er sei nicht zum Armeefan geworden. Nein, er habe nicht mit der Friedensbewegung gebrochen.Dann vertieft sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen des Nationalrats, und sein Blick wirkt beinahe stumpf vor Besorgnis. Das langjährige Leitfossil der Schweizer Armeeabschaffer fühlt sich missverstanden.

 

Seit Wochen ist er unterwegs und wirbt für ein zweifaches Ja zu den Armeevorlagen vom 10. Juni. Gross versucht den Leuten zu erklären, weshalb für die Friedensförderung künftig bewaffnete Auslandeinsätze von Schweizer Soldaten nötig sind. Er macht das mit grossem Pflichtbewusstsein, aber ohne sichtbaren Spass. Das Diskussionsniveau, klagt er, sei mitunter bedenklich tief.

14. Mai, Restaurant «Anker», Luzern, Parolenfassung des SP-Parteivorstands: Andreas Gross, als Gast geladen, sitzt vor knapp 30 Nasen und spricht: «Nur zusammen mit anderen Staaten können wir Sicherheit schaffen und Frieden aufbauen. Als überzeugter Pazifist sage ich Ja zur internationalen Kooperation.» Beim Wort Pazifist geht ein Murmeln durch den Saal. Pazifist? Der? Glaubt er wohl selber nicht mehr.


Doch. Andreas Gross, Befürworter von bewaffneten Auslandeinsätzen, besteht darauf, Pazifist zu sein. Und je mehr seine ehemaligen GSoA-Weggefährten dies bei der aktuellen Militär-Debatte in Zweifel ziehen, desto stärker rechtfertigt er sich. Ein Pazifist sei eben nicht - wie es im Duden steht - einer, der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf Rüstung und militärische Ausbildung fordert, sondern einer, «der in einem bestimmten Moment möglichst wenig Gewalt braucht».

 

In Dutzenden von Einsätzen für den Europarat war Gross in Albanien, Moldavien, Rumänien, Aserbeidschan, Bosnien-Herzegowina und hat gelernt: Nach gewaltsamen Konflikten kann ein Waffenstillstand oft nur mit bewaffneten Truppen abgesichert werden, weil die Menschen «zu wenig Respekt vor Menschenrechten und Gesetz haben». Dann rechtfertigt er sich: «Meinen politischen Grundüberzeugungen bin ich treu geblieben. Wer etwas anderes behauptet, ist nicht bereit, mir richtig zuzuhören.»

 

Diskutiert der 49-jährige Politikwissenschaftler mit dem 31-jährigen GSoA-Aktivisten Nico Lutz über das Militärgesetz, steht Aussage gegen Aussage. Lutz sagt, das Gesetz ermögliche die Teilnahme an friedenserzwingenden, Nato-geführten Einsätzen und sei darum abzulehnen. Gross sagt, es gehe um friedensfördernde Einsätze unter Uno- oder OSZE-Mandat. Kampfhandlungen zur Friedenserzwingung wären ausgeschlossen. Ein Ja am 10. Juni sei deshalb für den «aussenpolitischen Lernprozess» wichtig.Brav tönt das, vernünftig.

 

Gross strebt nicht mehr die Entmilitarisierung, sondern die «Transnationalisierung der Friedenspolitik» an. Sein Vorschlag: Die Schweiz schafft die allgemeine Wehrpflicht ab und unterhält eine freiwillige Armee mit 10 000 bis 40 000 Angehörigen, die sich an internationalen Einsätzen beteiligen. Diese «Restarmee» würde der Uno unterstellt und erhielte im Gegenzug von den Vereinigten Nationen Sicherheit garantiert. «Damit würde die Schweiz ein Stück Tradition bewahren und zugleich einen Neuanfang machen, dem sich viele andere Kleinstaaten anschliessen könnten.»

 

Seine Utopien werden immer realistischer. Aber das hat er schon durch seinen Austritt aus der GSoA im November 1997 signalisiert. Gross widersetzte sich zum Ärger der jüngeren Mitstreiter ungeniert der zweiten Armeeabschaffungsinitiative, weil diese kontraproduktiv sei. Diese Ansicht vertritt er nach wie vor. Eine zweite Initiative bremse den laufenden Reformprozess und spiele jenen Kreisen in die Hände, die an Veränderungen gar nicht interessiert seien. Anfang 2002 kommt die Initiative «Für eine glaubwürdige Sicherheitspolitik und eine Schweiz ohne Armee» zur Abstimmung. Aus Sympathie zur Sache wird Gross ein Ja einlegen. «Die Enttäuschung über das Abstimmungsresultat», warnt er, «wird leider unangemessen gross ausfallen» und erinnert an das historische Ergebnis vom 26. November 1989. Damals holten die Armeeabschaffer einen Ja-Stimmen-Anteil von 35,6 Prozent. «Jetzt müsste man besser verlieren, mit 40 Prozent.»

 

Etwas aber irritiert: Bei seinem Werbefeldzug für die beiden Militärvorlagen weist Gross fast schon penetrant darauf hin, dass er - theoretisch - nach wie vor die Armee abschaffen wolle. Er sagt: «Die Schweiz kann nichts besser mit der Armee, könnte aber manches besser ohne sie.» «Reichlich widersprüchlich», nennt das der Zuger Historiker und GSoA-Wortführer Josef Lang. Gross habe die Front gewechselt, sei umgestiegen von ziviler Konfliktbearbeitung auf militärisches Konfliktmanagement. Zu diesem Wandel müsse er nun endlich stehen.

 

Gross wurde 1998 Mitglied der Studienkommission für strategische Fragen, der so genannten Brunner-Kommission, die vom damaligen Verteidigungsminister Adolf Ogi eingesetzt und vom ehemaligen Staatssekretär Edouard Brunner geleitet wurde. Gross war eines von 42 prominenten Mitgliedern und entwickelte Szenarien für die strategische Zukunft der Sicherheitspolitik. Die GSoA beobachtete ihren ehemaligen Vertreter genau und heulte auf, als sie las, wie er zum Verräter wurde. Gross sprach sich für die Aufrüstung der Armee mit neuen Hightech-Waffen aus, für die militärische Flüchtlingsabwehr in «ausserordentlichen Situationen» und die Beibehaltung einer «glaubwürdigen autonomen militärischen Verteidigung». In dieser Zeit lernte Gross den damaligen SVP-National- und heutigen Bundesrat Samuel Schmid kennen und schätzen. Gross und der Infanterieoberst Schmid verstehen sich bis heute bestens und sind sich einig: Bewaffnete Soldaten sind ein gutes Mittel für mehr Sicherheit im Ausland.

 

Auch der inzwischen verstorbene Divisionär a. D. Gustav Däniker zeigte sich nach Erscheinen des Brunner-Berichts erfreut: Es sei ein Signal, «wenn Armeeabschaffer Gross keine Hemmungen hat, sich einem Modell anzuschliessen, das die militärische Komponente so prominent einschliesst». Umgekehrt schwärmte Gross schon von Adolf Ogi, als der seine Pläne für die Armee XXI bekannt gab. «Ein Sozialdemokrat», meinte er, «könnte die Sache nicht besser machen.» Der Satz veranlasste WoZ-Redaktor und GsoA-Aktivist Hans Hartmann prompt zur Frage, ob Gross nicht Ogis Pressesprecher werden wolle. Das einst gute Verhältnis zwischen der linken Wochenzeitung und dem linken Politiker hat sich im Laufe der Jahre ernüchtert. «Eine unglaubwürdige Zeitung» (Gross) - «Ein geduldiger Redner mit einer geradezu entwaffnend natürlichen Eitelkeit.» (WoZ)

Mitunter verweist er - obwohl er es nicht nötig hätte - auf seine Belesenheit («Spiegel», «Zeit», «Economist», «Le Monde») und spricht gerne von «handlungsorientiertem Freiheitsverständnis», «hegemonialem Denken» und der «kopernikanischen Wende». Der «Schweizer Illustrierten» öffnete der anspruchsvolle Zeitungskonsument die Tür seiner Klause in Saint-Ursanne, die er für 1200 Franken gemietet hat. Zitat: «Wenn ich in Zürich eine Wohnung mieten wollte, in der für alle Bücher Platz ist, würde mich das mindestens 5000 Franken kosten.»

 

Was ihm viele nicht verzeihen: Gross sprach sich 1999 - mit einem grossen Teil der SP-Fraktion - für die Nato-Bombardierung Serbiens aus (Gross: «Die Aktion war völkerrechtlich illegal, aber politisch legitim») und meinte auf die Frage, was er von der Bombardierung von Flüchtlingskonvois halte: «Der arme Cheib ist der Pilot, der den Fehler gemacht hat.» Als es wenig später zur russischen Aggression gegen Tschetschenien kam, lobte Gross Wladimir Putin als dialogfähigen und selbstkritischen Politiker. Mehr noch: Gross reiste vor Ort, schüttelte dem grossrussischen Kriegsherrn die Hand - als erster Schweizer, wie er anschliessend stolz betonte.


16. Mai, Altersheim «Limmat», Zürich. Die SP-Senioren begrüssen den Genossen Andreas Gross. Er sitzt vorne an einem Tisch, nimmt den Hellraumprojektor in Betrieb und setzt an zum Plädoyer für den Uno-Beitritt. «Nicht weil in der Uno alles super ist, müssen wir ihr beitreten, sondern weil auch wir etwas zu deren Verbesserung beitragen können.» Nicken im Saal. Dann wirds heikel. Gross will die Senioren überzeugen, dass bewaffnete Schweizer Soldaten im Ausland friedensfördernd wirken könnten. Röbi, 76, Armeegegner, erhebt sich und interveniert: «Nenn mir eine Armee, Andi, die den Frieden brachte.» Und Andi entgegnet: «Es gibt keine Armee, die den Frieden brachte, aber eine Armee kann mit bewaffneter Präsenz zeigen, dass jene, die mit Gewalt liebäugeln, damit keine Chance haben.» Kopfschütteln im Saal.

 

Unerhofftes Lob kommt von ehemaligen Kritikern. «Unsere Grundhaltungen sind identisch», freut sich der Ex-FDP-Nationalrat und Brigadier Ernst Mühlemann. Gross befinde sich eben in einem permanenten Lernprozess und habe nun eingesehen, dass in gewissen Situationen nebst Prävention und Diplomatie auch ein legitimiertes militärisches Eingreifen nötig sei. Und Ernst Cincera, der Gross einst zum Rücktritt aus dem Nationalrat aufforderte, schwärmt: «Ein Mensch mit solidem philosophischem Background, der ihn nun bewogen hat, seine Einstellung zur Armee zu revidieren.» Richtig ist, dass sich Gross als Befürworter der Militärgesetzrevision in der Fraktion in der Mehrheit befindet, aber ihm das - auf Grund seiner Vergangenheit - mehr als anderen verübelt wird.


«Ich bin je länger, je mehr froh, dass ich die Kraft gefunden habe, meine damalige Heimat zu verlassen», kommentierte Gross seinen Austritt aus der GSoA. «Und wir», sagt Kontrahent Lang heute, «dürfen froh sein, dass er gegangen ist.»

 

ENDE LAUFTEXT

 

Der Debattierer: Im Bundeshaus sucht Andreas Gross den Kontakt zum politischen Gegner, um sich mit dessen Ideen auseinander zu setzen. «Mehr als das Parteibuch interessiert mich der Mensch. Ich bin weniger misstrauisch als andere und suche immer das Positive im Menschen.»
Der Pazifist: Als die GSoA im November 1997 eine zweite Abschaffungsinitiative lanciert, gibt Andreas Gross seinen Austritt bekannt. «Ein Tabu kann man nur einmal brechen. Mit der zweiten Initiative riskiert man, dass die modernen Kräfte im Militär wieder in Réduit-Stellung gehen.»
Der Berufspolitiker: Zum Denken, Schreiben und Lesen zieht sich der Zürcher nach Saint-Ursanne im Kanton Jura in sein «Atelier pour la démocratie directe» zurück. Andreas Gross ist geschieden, hat einen 20-jährigen Sohn und eine 17-jährige Tochter.