PUBLIKATION

NZZ am Sonntag

ZUSAMMENARBEIT

Franca Pedrazzetti (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

20.12.2009

DAS VIRUS, MEIN RETTER

 

Mein Cousin infizierte sich als 37-jähriger Mann 1995 durch eine unsaubere Spritze mit dem HI-Virus, erkrankte an Aids und erhielt von den Ärzten das Todesurteil. Heute geht es ihm besser denn je.

 

Wie ein typischer IT-Consultant kommt Otto nicht daher, eher wie ein in die Jahre gekommener Freak. Die Wollsocken, der Militärgurt und die selbst gedrehte Zigarette im Mundwinkel passen dazu. «Komm rein», sagt der 51-Jährige und öffnet die Tür zum alten Bauernhaus, das er zusammen mit zwei Katzen am Fusse der Rigi bewohnt.

 

Um es vorwegzunehmen: Die Diagnose HIV-positiv hat den langjährigen Konsumenten harter Drogen nicht wirklich überrascht. Sie ist, wenn man es nüchtern betrachtet, die logische Folge eines Lebensstils, der kein Risiko kennt. «Wenn ich davor gewarnt wurde, gewisse Dinge zu tun, habe ich sie extra ausprobiert», erinnert sich Otto und berichtet von jahrelangen Drogen- und Alkoholexzessen, von Schul- und Studienabbrüchen, Scheidung und Schulden. Wann immer es in seinem Leben  Probleme gab, hat er sie erstickt: im Heroin- oder Kokainrausch. Wie damals, im Winter 1995.

 

Der Film «Seven» über die sieben Todsünden mit Morgan Freeman und Brad Pitt läuft gerade in den Kinos. In Luzern tobt die Fasnacht, das Strassenvolk ist gut drauf. Auch Otto ist auf der Gasse, aber schlecht drauf. Seine Ehefrau hat ihm den Laufpass gegeben und klar gemacht, dass sie mit dem gemeinsamen Sohn das Weite sucht. Sein Studium der Wirtschaftsinformatik hat Otto nach ständigen Absenzen an den Nagel gehängt. Die Aussichten auf einen Job, der Stand seines Bankkontos – gleichsam bei null. Da kommt das Kokain,  das ihm Fixerkumpel Adriano auf der Toilette der Franziskanerkirche anbietet, gerade recht. Nachdem sich Adriano seinen Anteil der gemeinsamen Portion in die Venen gedrückt hat, nimmt Otto die schmutzige Spritze, hält sie kurz unter den Wasserhahn, füllt sie auf und setzt ebenfalls zum Einstich an. Er fühlt sich jetzt besser. Er hat sich soeben mit dem HI-Virus infiziert.

 

Als er sich drei Monate später für eine stationäre Drogentherapie anmeldet und bei Eintritt, wie es üblich ist, gefragt wird, ob er einen Aids-Test machen will, lehnt Otto ab. «Nicht nötig». Die Anfangssymptome, die mit einer HIV-Infektion einhergehen, nimmt er nicht als solche wahr. Eine Grippe, denkt er, mehr nicht. Doch in seinem Körper herrscht Action! Tausende von HI-Viren befallen die so genannten Helferzellen und vermehren sich rapide. Während zweier Jahre behauptet sich sein Immunsystem gegen die virale Attacke noch tapfer, doch dann gibt es sich geschlagen. Als ihn die Eltern eines Sonntags zum gemeinsamen Mittagessen erwarten, legt sich Otto kurz vorher noch einmal hin. Eigentlich möchte er nur ein Nickerchen machen, fällt aber in einen Tiefschlaf, verpasst den Termin. Klingende Telefone, Läuten an der Haustür – Otto nimmt nichts wahr. Als tags darauf die Ambulanz kommt, liegt er samt Kleidern immer noch auf dem Sofa. Er ist nicht ansprechbar.

 

Die Diagnose der Ärzte im Kantonsspital ist schnell gestellt: «Kryptokokken-Meningitis»: eine Hirnhautentzündung, verursacht durch den gleichnamigen Keim. Für Menschen mit intaktem Immunsystem kein Problem, für Otto hingegen birgt sie ein enormes Risiko. Nach tagelangem Beraten schafft ein Bluttest endlich Klarheit. Otto ist HIV-positiv und hat noch genau 2 Helferzellen. Ein gesunder Mensch verfügt über deren 800 bis 1500. Gleichzeitig schwimmen in seinem Blut 390'000 Viren pro Milliliter. Mit diesen Werten und der Diagnose der Hirnhautentzündung befindet sich der Patient nach offizieller Klassierung im Stadium C3 der HIV-Erkrankung. Otto hat Aids. Er bekommt eine Infusion und wird via Schlauch mit Medikamenten versorgt. Dann fällt er ins Koma. Die Ärzte machen den Betroffenen und die Angehörigen mit der Prognose vertraut: Die Lebenserwartung liegt bei sechs bis maximal neun Monaten.

 

Völlig unerfahren mit Aids-Patienten, entlassen die Ärzte den immer noch geschwächten Patienten nach seinem Comeback aus dem Koma aus dem Spital und schicken ihn in ein Krankenzimmer für Obdachlose – ausgerüstet mit einem Koffer voller Medikamente und teurem Rat: Er soll jetzt die Finger von den Drogen lassen und gleichzeitig mit der Einnahme von HIV-Medikamenten starten. Vielleicht, sagen die Mediziner, kann man das Ende ja noch ein bisschen hinauszögern. Doch die antiretrovirale Therapie – zu diesem Zeitpunkt ein Novum auf dem Markt - wird ein einziger Albtraum. Otto verträgt die Medikamente nicht, übergibt sich mehrmals täglich und das über Wochen. Er leidet unter massivem Hirndruck, tiefem Blutdruck, hat starkes Kopfweh, Durchfall und null Appetit. Was er isst, kann er nicht behalten. Ein einziges Elend.

 

Der 1.80 Meter gross Gewachsene magert ab, wiegt jetzt noch 52 Kilogramm, ist nur noch Haut und Knochen. Vierundzwanzig Tabletten soll er pro Tag schlucken, alle zu festgelegten Zeiten. Aber sein Körper steht mit der Chemie auf Kriegsfuss. Was wird diesem eigentlich alles zugeführt? Retrovir? Didanosin? Ritonavir? Nelfinavir? Otto kennt den Cocktail, den er verschrieben bekommt, nicht im Detail, aber er merkt, dass er ihn nicht verträgt. Und zwar je länger, desto weniger. Als er – inzwischen bei den Eltern in Pflege – nach einem Entspannungsbad aus der Wanne steigen will, fehlt ihm die Kraft, um aufzustehen. Ein anderes Mal erleidet er einen epileptischen Anfall, verliert für kurze Zeit das Bewusstsein und bleibt am Boden liegen. Auch psychisch ist er völlig demoralisiert. Fixerkumpel Adriano, so hat er  gehört, ist inzwischen an Aids gestorben. Ihm selber, denkt Otto, wird es bald gleich ergehen. Zwischen Mai 1998 und Dezember 1999, in einer Zeitspanne von eineinhalb Jahren, wird Otto neunmal hospitalisiert, wieder an den Tropf gehängt, aufgepäppelt.

 

Erst mit dem Einbezug des Luzerner Tropenarztes und HIV-Spezialisten Markus Frei geht es allmählich bergauf. Der engagierte Fachmann mit eigener Praxis nimmt sich viel Zeit, will Bescheid wissen über das Vorleben seines Patienten und findet Anfang 2000, nach monatelanger Suche, erstmals eine Wirkstoffkombination, die Otto verträgt. Die erfreuliche Entwicklung ist augenfällig und manifestiert sich auch in den Laborwerten. Ottos Helferzellen vervielfachen sich von 2 auf 90, dann auf 170, auf  200, und es werden immer mehr!  Parallel dazu – und dies markiert den definitiven Durchbruch der Therapie - nimmt die Virenmenge im Blut kontinuierlich ab. Endlich, ein Erfolg! Otto schreibt sich wieder an der Hochschule ein, schliesst – im mittlerweile dritten Anlauf – das Studium der Informatik mit exzellenten Noten ab und nimmt mit seinem 13-jährigen Sohn und den Eltern sein Diplom in Empfang. Kurz darauf findet er einen befristeten Job in der Informatikabteilung der kantonalen Verwaltung und wagt dann den Schritt in die berufliche Selbstständigkeit. Backuplösungen, Betriebssysteme, Flash Games, Linux-Serverkonfigurationen; er hat den Durchblick in der IT, gründet eine Firma, mietet sich einen günstigen Büroraum, realisiert eine Webpage und akquiriert Kunden.

 

Sein Leben nimmt eine Wende zum unverkennbar Guten. Auch die Libido, durch die körperliche Schwäche völlig inexistent, macht sich plötzlich wieder bemerkbar. Otto verliebt sich. Zuerst in Conny, eine engagierte Aids-Aktivistin, selber HIV-positiv, dann in Jasmin, HIV-negativ. Die quirlige Kleinkindererzieherin mit dem Kurzhaarschopf und den wachen Augen gefällt ihm auf Anhieb. Und er ihr: «blond, blauäugig, Skorpion», erinnert sie sich und strahlt: «Er war genau mein Typ.» Als sie das erste Mal zusammen ins Bett gehen, passen sie auf, «dass nichts passiert». Da Ottos Viruslast aber weiter sinkt, und er nicht mehr als infektiös gilt, können sie schon bald ungeschützt verkehren. Schwingt die Angst nicht trotzdem mit? Doch, sagt Jasmin, die sich regelmässig testen lässt, eine kleine Unsicherheit bleibe. «Eine Frage des Vertrauens», sagt er. «Eine Frage der Liebe», sagt sie.

 

Die Beziehung hält seit sieben Jahren. Meist besucht Otto Jasmin in Bern. Dann gehen sie spazieren, der Aare entlang. Letzten Winter konnte sie ihn sogar zum Skifahren auf der Rigi überreden, obwohl Sport überhaupt nicht sein Ding ist. Die Abende verbringt Otto meist lesend: Guy Maupassant, Sandor Marai, Joseph Roth, Urs Widmer, Gerold Späth. Seine Aufträge als Computerfachmann halten ihn über Wasser. Dreimal pro Jahr sucht er Doktor Frei auf, der seine Blut- und Leberwerte und die CD4-Werte kontrolliert. Der aktuelle Stand ist zufrieden stellend und konstant: 500 Helferzellen pro Milliliter bei nicht nachweisbarer Viruslast. Die Tablettenration konnte er von anfangs vierundzwanzig auf sieben reduzieren. «Es ist ein Wunder, dass er noch lebt», ist ein Satz, der von seiner Mutter stammt. «Kann man so sagen», bestätigt der Sohn, knipst ein Lachen an und bilanziert trocken: «Hätte ich mich nicht mit HIV angesteckt, wäre ich wohl längst an einer Überdosis gestorben.»

 

ENDE LAUFTEXT


 

Für rund 9000 HIV-Positive in der Schweiz ist ein Leben ohne Medikamente nicht mehr vorstellbar. Ob als Kapsel, Tablette oder als in Saft aufgelöstes Pulver – jeden Tag finden die Wirkstoffe den Weg in ihren Körper, entweder alle 12 oder alle 24 Stunden. Die Fortschritte, welche bei der so genannt hochaktiven antiretroviralen Therapie – kurz HAART – im Laufe der letzten zehn Jahre erzielt wurden, sind enorm. Sie gelten jedoch nur für die Schweiz und ähnlich hochentwickelte Länder der westlichen Welt, wo man sich die neuen Medikamente leisten kann und wo deren Wirksamkeit durch teure Labortests engmaschig kontrolliert wird. Eine Tagesration kostet schnell bis zu 70 Franken, und pro Jahr verursacht eine Therapie Kosten in der Höhe von rund 25'000 Franken. In der Schweiz stehen zurzeit 25 Medikamente und 21 verschiedene Substanzen zur Behandlung der HIV-Erkrankung zur Verfügung. Sie haben zwei Ziele: Die Viruslast im Blut zu senken und damit gleichzeitig die Zahl der überlebenswichtigen CD4-Zellen zu erhöhen, die für ein funktionierendes Abwehrsystem zentral sind.