PUBLIKATION

Neue Zürcher Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

4.4.2012

WIR WOLLEN EINE SCHULE FüR ALLE SEIN

 

In der Zuger Gemeinde Walchwil besucht jedes 5. Kind eine Privatschule. Die Verantwortlichen von Politik und Verwaltung bedauern dies, können die Entwicklung aber nicht stoppen.

 

Peter Roth, 42 Jahre alt, ist Walchwiler durch und durch. Geboren und aufgewachsen in der Zuger Seegemeinde, engagiert er sich in diversen Vereinen und ist als naturverbundener Bauer, nebenamtlicher Stromzählerableser und durch sein Amt im Gemeinderat mit den lokalen Verhältnissen bestens vertraut. Peter Roth hat sämtliche Schulen, inklusive den damals noch im Usegoladen einquartierten Kindergarten, hier besucht. Auch seine vier Kinder – 10, 13,16 und 17 Jahre alt – sind bzw. waren Kinder der Dorfschule. „Das ist ja logisch“, sagt Roth.

 

Was für den unkomplizierten Gemeinderat die normalste Sache der Welt ist, kommt für immer weniger Walchwiler in Frage. Innerhalb der Gemeinde besucht jedes fünfte Kind eine Privatschule. Dies zeigt eine Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS). Mit diesem Wert verfügt die Gemeinde Walchwil im Kanton Zug prozentual über den höchsten Anteil an privat geschulten Kindern. „Das liegt aber nicht daran, dass unsere Schule schlecht wäre“, betont Rektor Jürg Portmann, der zusammen mit Gemeinderat Roth im Büro über dem Feuerwehrdepot Platz genommen hat. „Der hohe Anteil Privatschulbesucher ist eine logische Folge der Bevölkerungsentwicklung. In der Zahl von 20 % manifestiert sich das Abbild der Menschen, die heute hier wohnen.“

 

Die unmittelbare Lage am See, die Nähe zu Zug, der fantastische Ausblick auf Rigi und Pilatus und der tiefe Steuerfuss von 55 % haben dazu geführt, dass in den letzten zehn Jahren vorwiegend finanzstarke Familien zugezogen sind und den idyllischen und sonnenverwöhnten Flecken am Südhang zu ihrem Wohnsitz gewählt haben. Wo mildes Klima herrscht, Edelkastanien, Reben, Feigen und sogar Kiwis wachsen, lässt sich gut leben. Dass der Ausländeranteil in der Wohnbevölkerung generell bei 35 %, jener in der Schule aber nur bei 18 % liegt, erklärt ein Stück weit die Zahl des BFS: es sind vor allem Familien ohne Schweizer Pass, die sich für eine Privatschule entscheiden; vorwiegend für das Institut Montana auf dem Zugerberg oder die Campusse der internationalen Schulen in Cham, Walterswil und Hünenberg.

 

Diese Entwicklung steht in einem gewissen Widerspruch zum Motto von Rektor Portmann und Gemeinderat Roth, das lautet: Die Walchwiler Schule will eine Schule für alle sein, will heissen für die Bauernfamilien genauso wie die Direktorenfamilie. Portmann ist überzeugt, dass die Schule eine wichtige integrative Funktion innerhalb des Dorfes hat, indem sie verschiedene Kulturen und gesellschaftliche Kreise vereint und mit aller Selbstverständlichkeit – und daher fast unmerklich – die Glieder einer Dorfgemeinschaft zusammenführt. Er möchte dies nicht als  etwas Antiquiertes verstanden wissen, sondern als etwas Erstrebenswertes, das es ungeachtet der aktuellen Entwicklung – oder ihretwegen sogar noch stärker – zu propagieren gilt.

 

Tatsache ist: Manche Familien, die zuziehen, sieht Gemeinderat Roth nur am von der Gemeinde offerierten Neuzuzügerapero, danach kaum mehr. Diese Eltern deponieren auf der Verwaltung eine Bescheinigung, die bestätigt, dass die Kinder auswärts geschult werden und erklären den Kontakt zur Schulbehörde damit als für beendet. Für Gemeinderat Roth, der als Zimmermannlehrling selber Hand bei der Dachkonstruktion des damals neu erstellten Oberstufenschulhaus angelegt hat und das Bildungsdepartement mit viel Leidenschaft führt, eine kaum nachvollziehbare Haltung. „Integration ist schwierig, wenn man weiss, dass man in zwei, drei Jahren wieder wegzieht“, bedauert er und macht deutlich, dass es zwischen „in einem Dorf leben“ und „einen Wohnsitz haben“ einen Unterschied gibt.

 

Die schleichende Anonymisierung -  ein Vorgang, der in einer Grossstadt nicht weiter (negativ) auffallen würde - nimmt man im kleinen Walchwil zur Kenntnis. Dennoch verwahrt man sich, gegen „die reichen Ausländer“ zu schimpfen und gesteht ihnen zu, für ihre Kinder bestimmt auch nur das Beste zu wollen. Abgesehen davon: Finanzstarke Einwohner finanzieren die moderne Infrastruktur der Gemeinde erheblich mit - auch jene der öffentlichen Schule. Angst, dass der Anteil Kinder in der Walchwiler Dorfschule durch die hohe Anziehungskraft der Privatschulen schwindet, dass die Volksschule marginalisiert wird oder deren Existenz gar gefährdet sein könnte, haben die beiden Herren aber keine. Insgesamt 300 Kinder und Jugendliche besuchen aktuell hier Kindergarten, Primarschule oder Oberstufe bis zur 9. Klasse. Somit konnte sich der absolute Bestand der Kinder innerhalb der Dorfschule in den letzten 20 Jahren halten, obwohl er bei steigender Einwohnerzahl in der gleichen Zeitspanne von 2700 auf 3700 eigentlich höher liegen müsste.

 

Dabei unternimmt die Schule Walchwil echte Anstrengungen, um mit ihrer Volksschule auch bei finanziell privilegierten Eltern als „Alternative“ zu den Privatschulen wahrgenommen zu werden. Das Angebot des Mittagstisches – ein mittlerweile entscheidender Faktor bei der Schulwahl – wurde in den letzten Jahren massiv ausgebaut.  Erweitert wurde auch das Angebot von zusätzlichen Deutschstunden , damit Eltern ihre Kleinkinder, egal welcher Herkunft sie sind, guten Gewissens in den Dorfkindergarten statt in Einrichtungen  à la „Early Childhood Education“, „Globegarden Childcare Center“ oder „Swiss Premium Preschool“ schicken können. Dank den erwähnten Massnahmen ist es Rektor Portmann tatsächlich gelungen, einige zugezogene Familien aus Russland, Südafrika und den USA von „seiner“ Volksschule zu überzeugen. Sie bereuen den Entscheid nicht.

 

Während das Gros der so genannten Expats ihre Kinder meist direkt an Privatschulen anmeldet, macht Portmann bei Schweizer Familien, dich sich durchaus eine Privatschule leisten könnten, immer noch viel Sympathie für die Volksschule aus. Sie vereinbaren mit Portmann einen Termin, schauen sich das Schulgelände an, werfen einen Blick in die Schulzimmer und wägen dann ab, was für ihr Kind besser ist. „Massgebend für den Entscheid pro Volksschule“, sagt Portmann, „ist oftmals die Überzeugung, dass die persönliche Integration der Kinder im Ort besser und schneller gelingt.“ Er selber sieht es genauso. Ob Teilnahme am Klausjagen, am Schülergottesdienst, Sternsingen, Räbelichtli- oder Fasnachtsumzug: „Die Schule ist die Institution, die das kulturelle Leben massgebend mitprägt und dafür sorgt, dass an den Anlässen Kinder und Eltern aus unterschiedlichen Schichten zusammenkommen.“ Portmann sieht „seine“ Schule so auch als Bestandteil der Dorfkultur.

 

Dazu gehören auch die spazierenden oder velofahrenden Schulkinder, die am Morgen eines der vier Schulhäuser im Dorf anpeilen. Doch in jenen Quartieren, wo die Quote privat geschulter Kinder besonders hoch ist, wird dieser Schülerstrom zunehmend dünner. Stattdessen zirkulieren dort die Busse der Privatschulen. Sie sammeln die Kinder morgen ein, chauffieren sie in den Campus und liefern sie nachmittags wieder zu Hause ab. Es ist nicht so, dass man sich extra aus dem Wege geht, doch rein technisch ist eine Begegnung unter den Kindern kaum vorgesehen; auch in der Ferienzeit. Die Sommerferien der „Privaten“ dauern tendenziell länger als jene der „Öffentlich-rechtlichen“, dafür sind die Herbst- und Sportferien der Privaten kürzer. Frühlings- und Weihnachtsferien sind ebenfalls unterschiedlich angesetzt.

 

Umso wichtiger wäre es nach Ansicht von Gemeinderat Roth, dass sich Familien, die nicht via Schule mit dem Dorf verbunden sind, einem lokalen Verein anschliessen würden. Dass der Beitritt eines Schwedischen Sales Directors zum Schwingclub oder zur Feuerwehr eher unrealistisch ist und die französische Investmentbankerin nicht bei der Trachtengruppe oder im Kirchenchor mitwirken will, versteht auch Bildungschef Roth. Aber Kinder und Jugendliche, die extern geschult werden, in den Blauring oder die Pfadi zu schicken, wäre seines Erachtens für ein stärkeres Miteinader wirkungsvoll. Der Wunsch des Schulpräsidenten: Das wache Interesse der Zugezogenen am traditionellen Walchwil und an dessen Brauchtum. „Auch das“, sagt er, „sind Bildungsinhalte.“

 

Ein erster Schritt in diese Richtung ist geglückt. Peter Roths Schwester Priska Hürlimann-Roth hat vor kurzem den Kinderclub gegründet. An Mittwochnachmittagen organisiert sie Wanderungen, bei denen die Kinder die Umgebung besser kennenlernen, Bauern, Imker, Schweine- oder Ziegenzüchter besuchen. Ausflüge im Sandsteinbruch, beim Nagelfluhfindling oder in der Fischbrutanlage stehen ebenso auf dem Programm wie Aktivitäten zum Thema Chriesi-, Moscht- oder Cheschtänäkultur – je nach Jahreszeit halt. Ursprünglich für die Kinder der Volksschule gedacht, nehmen immer häufiger auch jene Kinder teil, die Privatschulen besuchen. Organisatorin Priska ist erfreut, denn die Entwicklung zeigt: Ein „International Baccalaureate“ und „Advanced Placement“ mag für das berufliche Fortkommen von immer mehr Familien hier wichtig sein. Doch auch das Wissen und bewusste Miterleben von lokalem Brauchtum ist etwas wert.

 

Kanton Zug: Privatschulen boomen

 

Der kleine Kanton Zug weist eine stolze Anzahl von insgesamt 21 anerkannten Privatschulen und Kindergärten auf. Im Schuljahr 2011/12 absolvierten mehr als 7 Prozent aller Schüler die obligatorische Schulzeit in einer Privatschule. Überflieger ist die Gemeinde Walchwil: 20 % der Kinder sind nicht an der öffentlichen Schule angemeldet. Auch im Vergleich zu anderen Zentralschweizer Kantonen weist Zug eine hohe Quote privat geschulter Kinder aus. In Zürich und Obwalden liegt der Wert bei je 3,9 Prozent, in Schwyz bei 2,5 Prozent und in Luzern bei 1,4 Prozent. In den Kantonen Uri und Nidwalden gibt es keine Privatschulen.