PUBLIKATION

Frankfurter Allgemeine Zeitung

ZUSAMMENARBEIT

Herlinde Koelbl (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

5.10.2008

BIS ES NICHT MEHR GEHT

 

Jahrzehntelang hat Louise Bourgeois im Stillen als Bildhauerin und Malerin gearbeitet. Heute, mit 95 Jahren, gilt die in New York lebende Französin als eine Ikone der zeitgenössischen Kunst und setzt mit ihren Werken Millionen um. Die Tate Modern in London widmet der Unermüdlichen eine Sonderaustellung.

 

Es ist dieses faltige Gesicht, das einen in Bann zieht, ob man will oder nicht. Und in den Augen, diesen kleinen Fenstern, ist die Zeit so machtvoll präsent, wie es nur bei einer Greisin möglich ist. Schalk und Wärme spiegeln sich bei Louise Bourgeois wider, vor allem aber der konzentrierte Wille, weiterzuarbeiten, bis es nicht mehr geht.

 

Louise Bourgeois hat die Kunstwelt seit je fasziniert. Die in ihrem Zusammenhang am häufigsten zitierten Begriffe sind «Ikone»  und «Legende», die in ihrer Klischeehaftigkeit natürlich längst zu Tode geritten sind und dennoch eine Wahrheit ins Zentrum rücken, die für Louise Bourgeois vortrefflich gilt: An Louise Bourgeois kann man studieren, was Überleben heisst. Was es heisst, mit stupender Konstanz und eigenwilligem Optimismus die eigene Arbeit voranzutreiben. Gerade in Zeiten, wo der Kunstbetrieb von Hypes und Hektik bestimmt ist, haftet der Karriere Bourgeois' etwas Grandioses an.  Diese kleine, energische Frau hat sich – vielen widrigen Umständen zum Trotz – mit einem fulminanten und unwahrscheinlich reichhaltigen Lebenswerk einen einzigartigen Stellenwert in der Kunstwelt erarbeitet und gesichert.

 

Der schöpferische Impuls ihrer Arbeit ist in der Kindheit zu suchen und diese lässt vorwiegend vier Kernthemen erkennen: Liebe, Hass, Sexualität und Gewalt. Im Jahre 1911 an einem Weihnachtstag in Paris als zweites Mädchen geboren, steht ihr Start ins Leben unter einem schlechten Stern. Ihr Vater, ein Kunsthändler, hätte sich lieber einen Jungen gewünscht und liess dies die Tochter zeitlebens spüren.  Louise blieb der Vorstellung verhaftet, die Geburt von Töchtern müsse man verziehen bekommen, als Tochter müsse sie sich lebenslang ihr Daseinsrecht erkämpfen. «Meine Kindheit», so Bourgeois in einem der raren Interviews, die sie einer Fernsehjournalistin gewährte, «hat nie ihre magische Kraft, ihr geheimnisvolles Dunkel und ihr Mysterium verloren. Mein Vater redete pausenlos. Bei Tisch hatte ich nie Gelegenheit, etwas zu sagen. Da habe ich angefangen, aus Brot kleine Sache zu formen.» Diese Figuren waren ihre ersten Skulpturen.

 

Louise Bourgeois hat in ihrer Arbeit «The Destruction of the Father» das problematische Verhältnis zu ihrem Vater thematisiert. Er betrog seine Frau mit Louises Englischlehrerinnen, und quartierte eine davon sogar über Jahre hinweg bei sich zu Hause ein. Mutter Joséphine duldete die Rivalin, Louise wusste Bescheid, doch das Thema war Tabu. Also litt man im Stillen. «Ich vergebe und vergesse nicht», sagte sie Jahre später, auf das Familieninterna angesprochen und bekräftigte die therapeutische Wirkung, die ihre Kunst hatte: «Ich konnte so die Dämonen aus meinem Leben vertreiben.» Positiv dagegen ist ihre Erinnerung an die Mutter. «Sie war klug, geduldig, tröstend, feinfühlig und fleissig.» Louise verglich ihre Mutter, die sie mit zwanzig verlor, oft mit einer Spinne und verwendete das Tier – das zu ihrem Markenzeichen werden sollte – als Abbild in zahlreichen Arbeiten. «Mother», eine über zehn Meter grosse Spinne aus Stahl, die im Jahr 2000 zur Eröffnung der Tate Modern in London in der Eingangshalle stand, ist mithin eines der schönsten Denkmale, das je eine Tochter ihrer Mutter setzte.

 

Weder die Heirat mit Robert Goldwater, der darauf folgende Umzug zu ihrem Mann nach New York, noch die Geburt ihrer drei Kinder hielten sie je von der Arbeit ab. Louise Bourgeois blieb immer kreativ und schuf sich ihren künstlerischen Freiraum. Die Zeichnung als unmittelbare und intime Technik lag ihr dabei genauso am Herzen wie die Bildhauerei, die ein Schwerpunkt ihrer Arbeit bildet, und die sie ganz nebenbei revolutionierte. Von Andy Warhol und Robert Rauschenberg schon früh geschätzt, stellten sich Erfolg und Anerkennung jedoch erst in den 80er Jahren ein, als das Museum of Modern Art in New York ihr 1982 eine Ausstellung widmete. Bourgeois war damals schon über siebzig Jahre alt. In den 90er Jahren waren ihre Werke dann auch in Europa zu sehen: Harte Plastiken aus Marmor, Holz und Bronze, weiche Skulpturen aus Latex, Stoff und Flachs von geradezu verstörender Schönheit. Ihre Experimentierfreude führte sie immer wieder zu neuen Materialkombinationen. Wenn sie Perlen und Stahl, Phallus und Brust im Kunstwerk zusammenführte, liess sich dies auch als Versöhnung der Gegensätze verstehen.

 

Früh hat Louise Bourgeois sich mit Fragen der weiblichen Wahrnehmung befasst, aber nie, ohne sich nicht auch mit der geheimnisvollen Gegenseite, dem Mann, auseinanderzusetzen. Auf die Frage, ob sie Feministin sei, antwortete Bourgeois: «Wozu? Ich bin eine Frau», und machte somit klar, dass sie sich allein kraft ihres Geschlechts als eine Kämpferin verstand. Zu Beginn der 70er Jahre engagierte sie sich in der amerikanischen Frauenbewegung Womens’ Lib, protestierte gegen die Ächtung von Prostituierten und beteiligte sich an Störaktionen in Museen, um so auf die einseitige männliche Ankaufspolitik hinzuweisen und auf Kuratoren, die praktisch nur Kunst von Männern ausstellten.

 

Bourgeois ist etwas Bemerkenswertes gelungen: Sie hat Massenkunst hergestellt, die von Tiefsinn geprägt ist. Ihre Werke sind auf Anhieb verständlich und trotzdem geheimnisvoll: Eine 60 Zentimeter lange Figur aus Latex taufte sie «Fillette», obwohl klar ein Phallus erkennbar ist. Warum? «Weil man zu ihm Sorge tragen, ihn beschützen muss, wie ein kleines Mädchen. Der Phallus ist Gegenstand meiner zärtlichsten Aufmerksamkeit», sagte sie einmal, angesprochen auf die Prominenz, die das männliche Geschlechtsteil in ihrem Werk einnimmt. «Schliesslich habe ich mit vier Männern zusammengelebt, meinem Mann und meinen drei Söhnen. Doch wenn ich glaube, dass ich den Phallus beschützen muss, bedeutet das nicht, dass ich mich nicht auch vor ihm fürchte.» In der Bronze-Plastik «Portrait of Robert», zeigt sie ihren Mann mit einem Dutzend Penisse. Warum? «Weil er grossen sexuellen Appetit hatte. Ich dachte, er freut sich, wenn ich ihn in seiner Potenz darstelle.» Wie sie auf die Idee gekommen ist, eine in Marmor gemeisselte Eichel «sleep» zu nennen, bleibt ihr Geheimnis.

 

Der autobiografische Charakter ihrer radikalen, eindeutig von sexueller Symbolik und Suggestion geprägten Kunst ist offensichtlich  und wird von ihren Interpreten daher nur zu gerne zum Verständnis der Arbeit heraufbeschworen. Doch jenseits der Verarbeitung traumatischer Kindheits- und langjähriger Ehe-Erfahrung trifft die Künstlerin bis heute eindeutig immer auch den Nerv der Zeit. Die unheimlich weite Spannbreite im Werk zwischen gedanklicher Frische einerseits und reifer Reflexion anderseits ist mithin der Grund, warum Louise Bourgeois für junge Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt ein Vorbild ist. Deprimiert oder gar verbittert über den erst späten Erfolg war und ist sie nicht. Im Gegenteil: «Success could not kill me, because success came so late», sagte sie einmal. Im Stillen arbeiten zu können, hiess für sie immer auch, in grösstmöglicher Freiheit arbeiten zu können.

 

«Wenn ich arbeite, bin ich ganz ich selbst. Ich habe dann eine direkte Verbindung zum Unbewussten», sagte die Künstlerin in einem ihrer letzten Interview von 1994. Aus der Bereitschaft, ihre innere Befindlichkeit künstlerisch umzusetzen, entstanden schliesslich auch die «Insomnia Drawings» - eine Serie von 220 Zeichnungen, die sie machte, weil sie nicht schlafen konnte. Sie manifestieren den ruhelosen Geist der Künstlerin: Zeichnungen und Skizzen wechseln sich ab mit Gedichten und Aphorismen in Englisch und Französisch, dazwischen finden sich Alltagsnotizen, die an die emsige Geschäftigkeit des Tages erinnern: beunruhigend und leidenschaftlich zugleich, klar und fragend, und durchdrungen vom schrägen, unverkennbaren Humor der Künstlerin, die die Einnahme von Schlaftabletten strikt ablehnte - zum Glück, wie man angesichts dieses Werks sagen muss. Doch irgendwann ist die erschöpfte Louise mit Tusche und Kohle in der Hand völlig ermüdet dann doch noch eingeschlafen.

Wenn die Tate Modern ihre Ausstellung eröffnet, wird Louise Bourgeois fehlen. Seit längerem ist sie bei Vernissagen nicht mehr anwesend, lässt auch sonst das Reisen bleiben und gibt keine neuen Interviews. Aber altersmüde ist sie nicht. «Wer Louise Bourgeois heute trifft, begegnet einer wachen und lebenslustigen 95jährigen, die in vollem Bewusstsein mit den Erfahrungen eines langen Lebens nach wie vor konzentriert arbeitet und produziert», so der Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist, der Bourgeois in den letzten Jahren immer wieder besucht und ihr mehrere Bücher gewidmet hat. Nichts in ihrem Wesen scheint an Oberflächlichkeit interessiert. Es ist die unbedingte Neugierde, mit der sie sich allen Aspekten des Menschlichen zuwendet und diese als Anstoss für ihre Arbeit nutzt. «Du musst jeden Tag die Vergangenheit aufgeben.» Sagt eine Frau auf der Zielgerade ihres Lebens.

 

Louise Bourgeois in der Tate Modern, London: 10. Oktober 2007 bis 20 Januar 2008