PUBLIKATION

Zuger Neujahrsblatt

ZUSAMMENARBEIT

Heidi Ambiel (Fotografie)

TEXT

Sabine Windlin

DATUM

1.1.2008

ZWISCHEN DIDDL UND DIOR

 

Eltern aus der ganzen Welt vertrauen der Privatschule Montana auf dem Zugerberg ihre Kinder an. Der Mikrokosmos auf dem Zugerberg ist international und familiär zugleich.

 

In den Köpfen der Innerschweizer ist eigentlich genau festgelegt, was sie über  die Zöglinge des Internats oben auf dem Zugerberg  denken sollen: Bonzenkinder. Stinkreiche. Mehrbessere. Viel Kohle, wenig Hirn – wie das so üblich ist in den Privatschulen eines Landes, in dem über 80 Prozent die öffentlichen Schulen besuchen. Mit den Schülern auf 1030 Metern über Meer hat das Fussvolk wenig am Hut.

 

«Eigentlich schade», sagt Schuldirektor Oliver Schmid, und bittet, in seinem schlichten Büro im Hause Schönfels Platz zu nehmen. «Es gibt nichts zu Verheimlichen». Im Gegenteil: Schmid möchte sein «Schuldorf» mit den rund 240 Internats- und Tagesschülern in der Schweiz ganz generell als Alternative zu den grossen Kantonsschulen und Gymnasien verstanden wissen und weist auf die  Stärken des Montanas hin. «Es herrscht eine familiäre Atmosphäre, zugleich ein internationales Ambiente. Diese Mischung ist für viele Jugendlichen attraktiv. Die kleinen Klassen – maximal 15 Schüler – ermöglichen eine hohe Unterrichtsqualität.»

 

Schmid, zuvor in der Geschäftsleitung einer internationalen Hotel- und Touristikfachschule sowie Sportbahnenchef in der Privatwirtschaft, leitet seit vier Jahren die Geschicke der Schule. Er sitzt vor einem grossen Büchergestell mit mehreren Enzyklopädien und pädagogischen Fachbüchern und sieht genau so aus, wie man sich einen Schuldirektor vorstellt: Schlanke Gestalt, kantiges Gesicht, kurz geschnittenes, graumeliertes Haar. Er trägt einen tadellos sitzenden Anzug, ein weisses Hemd, eine dezente Krawatte, hellbraune Lederschuhe und zeigt ein Lächeln, das wie auf Knopfdruck kommt und verschwindet. Er wirkt ein wenig skeptisch, aber nicht unfreundlich. Bei der Sekretärin bedankt er sich für den Kaffe, den sie auf dem Silbertablett reicht. Da klopft es an der Tür.

 

Ein Junge, der Mist gebaut hat, ersucht beim Direktor um einen Termin. Er ist wider besseres Wissen mit dem Motorrad auf den Zugerberg gefahren und hielt dieses bei der Bergstation der Standseilbahn versteckt. Doch die Mitnahme von motorisierten Fahrzeugen, erklärt Schmid, sei den Schülern strengstens untersagt. «Die Eltern vertrauen uns ihre Kinder an. Wir tragen die Verantwortung, wenn jemand einen Umfall baut.»

 

Und jetzt? Es passiert, was immer passiert, wenn ein Schüler gegen die Internatsregeln verstösst: Es gibt es eine mündliche Verwarnung. Beim zweiten Fauxpas gibt es eine schriftliche Verwarnung, beim dritten Fauxpas werden die Eltern orientiert und danach folgt ein zeitlich definiertes Ultimatum. Wer in dieser «Probezeit» noch einmal ausschert, muss den Koffer packen und sich vom Berg Richtung Tal verabschieden. Jeder Verstoss wird zudem in einer Datenbank registriert. Nur so könne man den Eltern den Rauswurf dokumentieren, erklärt Schmid, selber Vater von drei Kindern, von denen zwei die Rudolf-Steiner-Schule besuchen. Kein Internat für den eigenen Nachwuchs? «Das würde ich nicht übers Herz bringen», gesteht er.

 

Die erzieherischen Ideale des Montanas, vom Schulgründer und Humanisten Max Husmann 1926 bei der Gründung des «Voralpinen Knabeninstituts» verankert, haben auch achtzig Jahre später noch Gültigkeit: individualisierte Pädagogik und gezielte Talentförderung kombiniert mit kultureller Integration. Alles eingebettet in klar definierte Strukturen: Um 7 Uhr ist Tagwacht, um 7.30 Uhr gibt es gemeinsames Frühstück. Um 8.10 Uhr beginnt der Unterricht. Um 10.20 Uhr ist Pause, um 10.40 Uhr ist wieder Unterricht. Um 12.15 beziehungsweise 13 Uhr ist Mittagessen; einmal für die älteren, einmal für die jüngeren Semester. Dann beginnt wieder der Unterricht oder das Sportprogramm. Um 16 Uhr gibt es eine längere Teepause mit Snack, um 17 Uhr gemeinsames Studium. Um 19. 15 Uhr ist Nachtessen, um 20 Uhr Freizeit oder Sport. Ab 21.15 Uhr bis 22.30 Uhr heisst es dann Lichterlöschen – zeitlich abgestuft, je nach Alter.

 

Montana ist nicht Sommerhill, auch wenn hier fröhlich Vögel zwitschern, tagsüber das helle Sonnenlicht durch die Kronen der Eichen sickert und das Schulgelände in den warmen Jahreszeiten in eine geradezu zauberhaft idyllische Parkanlage verwandelt. Pünktlichkeit ist wichtig, gute Umgangsformen auch. Im Schulprospekt sind ferner als Zielwerte definiert: Zuverlässigkeit, Verantwortung, Streben nach Bestleistung – und Lebensfreude. Der Direktor führt jedes Jahr rund 200 Eltern- und Schülergespräche für Neuinteressenten durch. Wer will, kann für drei Tage im Montana schnuppern und danach entscheiden, ob er bleiben will.

 

Sieht und hört man sich auf dem Schulterrain um, fällt auf: Immer ist irgendwer irgendwo am Kichern, Tuscheln, Flirten. Es scheint, als habe die Lebensfreude der Jugendlichen, die hier oben erwachsen werden, das Gelände infiziert. Sie sind es, die diesem Berg ein bisschen Glamour verleihen, wenn sie zwischen den Lektionen schwatzend und lachend  – die Schulbücher unterm Arm geklemmt - mit Stöckelschuhen, Ballerinas oder schicken Turnschuhen zwischen dem Haus Schönfels und dem renovierten Trakt Felsenegg defilieren.

 

Viel Aufwand wird mitunter für eine adrette Erscheinung punkto Makeup und Kleidung betrieben. Das ist offensichtlich. Allenthalben leuchten lackierte Fingernägel und minutiös frisierte Haarstränen in nicht immer ganz natürlichem Blond. Superenge Jeans, flatternde Oberteile, feine Strümpfe und dann und wann ein kurzes – aber nicht zu kurzes! – Juplein erinnern an eine Modeschau.

 

Die Schule ist wie ein Upgrade für das 500 Meter tiefer liegende vor sich hin dümpelnde Kantonshauptstädtchen. Ist das nun die Diplomatentochter, der Managersohn, das Kind eines bekannten Filmstars oder gar Staatsoberhauptes? Man rätselt, ahnt, vermutet, spekuliert. «Doing business», lautet die häufigste Antwort auf die Frage, was die Eltern eigentlich tun, und «travelling around.» Und gerade weil man nichts Genaues weiss, ist der Hype um diese Schule gross - und macht die Schüler zu kleinen Stars.

 

Die jungen Leute, von denen sechzig Prozent im Internat leben, kommen aus mehr als 30 Nationen und sprechen ein halbes Dutzend Sprachen, viele sind Doppelbürger. Das Vertrauen untereinander muss gross sein. Da und dort liegen Rucksäcke und Sporttaschen am Boden, auf kleinen Tischen in den Aufenthaltsräumen stehen Laptops, an denen grad niemand arbeitet. Geklaut wird hier nicht. An der Pinwand erfährt man, dass es verboten ist, sich eine Pizza aufs Zimmer zu bestellen, daneben eine nett formulierte und vernünftige Bitte an die «dear girls», doch bitte das Licht zu löschen, wenn sie ihr Zimmer verlassen.

 

Es ist jetzt 13 Uhr und Zeit zum Mittagessen. Aus allen Ecken strömen Schüler. Im Treppenhaus bildet sich eine lange Schlange. Allmählich verstummt das Stimmengewirr. «Eines unserer Rituale», klärt der Direktor auf. Erst wenn es ganz still ist, werden die Türen des Speisesaals geöffnet. Et voilà! Lange, weiss gedeckte Holztische präsentieren sich im bezaubernd altertümlichen Speisesaal, der – abgesehen von schauderhaften Kunststoffplatten an der Decke – immer noch in altem Glanz erstrahlt. Schlingpflanzen wachsen an den Wänden empor und ranken sich lieblich um die raumhohen Fenster. An den Wänden erinnern Schwarz-Weiss-Fotos an den Schulbetrieb vergangener Tage. In der Ecke steht ein altes Klavier, wohl mehr zur Dekoration als zum Gebrauch.

 

«God bless this food for our use», spricht Internatsleiter John Mather in feierlich-pathetischem Ton und gibt ein Handzeichen, das zum gemeinsamen Mahl auffordert: ofenfrischer Tomatenstrudel, Kalbsschnitzel an Limettensauce, Teigwaren und Broccoli an gerösteten Mandeln; gereicht vom Chef de Service in weissen Baumwollhandschuhen. Die Schülerinnen und Schüler greifen zu und erzählen aufgeregt vom Wochenende. Nur ein Pärchen - sie Typ Paris Hilton, er Brad Pitt - ignoriert den Teller schnöde, sitzt gelangweilt da und würdigt auch die Erdbeer-Vanille-Bûche, die es zum Nachtisch gibt, keines Blickes. Sie stellt ein  verheissungsvolles, undefinierbares, braun-beiges «something» auf den Tisch. Was das wohl ist? Zigarettenbox? Fotoetui? Schminkset? Hauptsache Gucchi.

 

Das Refugium mit Alpenblick ist kein billiges zu Hause. Ein Schuljahr für Interne kostet 47 200 Franken. Hinzu kommen rund 3000 Franken für ausserschulische Aktivitäten plus ein Depot von 10 000 Franken sowie die Einschreibegebühr von 1500 Franken. Möchte ein Schüler statt in einem Zweier- in einem Einzelzimmer wohnen, kommen nochmals ein paar Tausend Franken hinzu. Ein Indiz für Profitsucht sind die Preise jedoch nicht und erscheinen – im Gegensatz etwa zum Nobelinstitut Le Rosey in Genf, wo das Schuljahr 90 000 Franken kostet – geradezu günstig.

 

Man darf nicht vergessen: Das Montana besitzt wohl viel Land und etliche Gebäude, doch nur wenig Finanzvermögen. Die Einnahmen decken kaum mehr als die laufenden Kosten. Die alterschwachen ehemaligen Hotelgebäude können nur schrittweise und dank generösen Spenden renoviert werden, und ihr Unterhalt ist teuer. «Hier ist nicht alles perfekt», bemerkt Schmid, «und das ist auch gut so.» Von einigen Wänden bröckelt der Putz, auf dem Tennisplatz wuchern kleine Moosteppiche, auf dem Linoleum im Speisesaal klaffen grosse Mulden.

«No entry» heisst es wenig einladend auf der automatischen Glastür, die in das lange, exponierte Gebäude «Felsenegg» führt, das in den Kriegswirren von 1939 als Lazarett diente. Bestimmt kommt man da nur mit einem geheim gehaltenen Zahlencode rein, schiesst es mir durch den Kopf, als unverhofft und ganz ohne Zauberspruch die beiden Türhälften zur Seite gleiten und man mittendrin in einer Schar schwatzender Teenager steht. Die Nervosität ist mit Händen zu greifen.

 

Heute bestreitet ein Teil der internationalen Sektion die Prüfungen des International Baccalaureate, der internationalen Matura. Sie ist Türöffner nicht nur für Schweizer Hochschulen, sondern auch amerikanische Renommieruniversitäten wie Harvard, Princeton, Stanford und Yale. Paris Hilton und Brad Pitt sind auch da, spazieren schlurfend, die Augen chronisch auf Halbmast, Richtung Aula. Optisch verkörpert dieses Pärchen exakt das Chliché, welches Aussenstehende vom «Montanaschüler» haben. Fakt ist, dass es den Montana-Typus nicht gibt, sondern 240 verschiedene Charaktere, denen allenfalls der finanzielle Background der Eltern (doch selbst da gibt es riesige Unterschiede) gemeinsam ist.

 

Joe (18), Sohn eines Bauunternehmers, jobbt am Wochenende im Pfäffiker Seedammcenter und verdient dort im Mövenpick sein Taschengeld als Kellner selber. Er möchte später Architektur studieren. Stephano (17) sucht nach der Matura eine Lehrstelle als Schneider, Frédéric (18) sieht sich als Militärpilot, Vincent (17) als Regisseur, und Nadine (13) möchte Meeresbiologie studieren oder in der Entwicklungshilfe arbeiten, nachdem sie mit den Eltern Afrika bereist und das Elend der kinderreichen Familien auf dem Lande gesehen hat. Yasmin (18)  will Wirtschaft studieren und interessiert sich stark für den Umweltschutz. In Ihrer Tasche hat sie ein Exemplar ihrer Maturarbeit. «Motivation zum Kauf eines Offroad Fahrzeuges» lautet der Titel.

 

Yasmin hat untersucht, warum sich immer mehr Leute zwei Tonnen schwere King Size Autos kaufen. Klar sei das ein wichtiges Thema, ereifert sie sich und runzelt nachdenklich die Stirn. Es sei doch absurd, mit welchen Autos die Leute zum Einkaufen fahren würden. Auf das Thema aufmerksam wurde sie, weil ihr Vater selber so ein abartig grosses Fahrzeug besitzt: den von General Motors produzierten, ursprünglich für die US-Armee konzipierten Hummer Geländewagen, der Unmengen Benzin verbraucht und CO2 ausstösst. «Ich bin damit nicht einverstanden», sagt die 20-jährige Lichtensteinerin. «In der heutigen Zeit sollte man bewusster leben. Stattdessen werden die Autos immer grösser, schwerer, protziger.»

 

Die Schule ist stolz auf die Maturandin und deren kritische Arbeit, die es nun sogar in die Tagespresse geschafft und dem Thema Umweltschutz und Klimawandel auch in der Schule zum engagierten Diskurs verholfen hat. Wie sieht es beim Herr Direktor aus? Er fährt «nur» einen kleinen VW Golf, seine Frau einen BMW X3 Diesel mit Partikelfilter, und der, versichert Schmid schmunzelnd, trinkt nur sechs Liter. «Wir sind fein raus.»

 

Die Jugendlichen und deren Vorgesetzte haben sich hinter dem historischen Gemäuer unterschiedlichster Epochen so selbstverständlich eingerichtet, dass hier auf ganz entspannte Weise Schule stattfinden kann. Zum Beispiel bei Werner Edelmann, Biologie- und Chemielehrer der unterhaltsamen Sorte mit «eigenwilligem Charakter»,  wie der Direktor vorwarnt. Dass dies durchaus im positiven Sinne gemeint ist, merkt man schnell, wenn einen der Lehrer im legeren V-Auschnitt-Pullover, den gestrickten Wollsocken und den nicht mehr ganz neuen Lederlatschen im Schulzimmer begrüsst und zufrieden feststellt, dass er – weil einige Jungs fehlen – heute «Hahn im Korb ist».

 

Das Schulzimmer ist klein und in bemitleidenswertem Zustand. Von den Wänden bröckelt der Putz, der Hellraumprojektor ist von vorgestern. Milchstrassen und Galaxien sind das Thema, die Entfernungsbestimmung von Spiralnebeln, die Magellanschen Wolken und Frauenhoferschen Linien. Die Schülerinnen hören aufmerksam zu, stellen kluge Fragen zur komplexen Materie, und es sieht ganz so aus, als finde der ansonsten bei Mädchen weitum verpönte naturwissenschaftliche Unterricht reges Interesse. Edelmann zeigt jetzt noch einen kurzen Fernsehfilm zum Thema und fängt plötzlich wie ein Hündchen an zu bellen. Als sich sofort eine Schülerin erhebt, um die Vorhänge zum Verdunkeln zu ziehen, lächelt der Lehrer zufrieden in meine Richtung und vergewissert sich: «Sie kennen den Pawlowschen Reflex?»

 

«Fuck the school», «Fuck Montana», «I love Alex», «Come back my girl», «I looooooove you» -  die Sprüche, die hier fein säuberlich ins Schulmobiliar eingeritzt wurden,  sind identisch mit den Sprüchen an öffentlichen Schulen und zeugen vom allgemein gültigen Soundtrack, der die Teenies tagein tagaus begleitet. Mit einem Unterschied: Auf dem Berg müssen die Schüler mit ihren Sorgen ohne Eltern fertig werden und das, sagt Giselle Mahler, kann ganz schön hart sein.

 

Die zierliche Mitvierzigerin mit Pferdeschwanz bleibt im Treppenhaus stehen, hält inne. Was hat sie, die sympathische Rektorin, mit den Teenagern nicht schon alles durchgelitten. Immer wieder klopfen sie, mitunter ratlos, verzweifelt oder einfach nur heulend, in ihrem Büro an. «Da wird aus dem hübsch geschminkten Girl in Chanel einfach nur ein trauriges Mädchen, das mit seinen Gefühlen nicht klar kommt.» Heimweh sei vor allem am Anfang ein grosses Thema, ansonsten Schulstress und Liebeskummer. «Die Mädchen trommeln dann jeweils den ganzen Stock zusammen, gehen spazieren und trösten sich untereinander. Die Jungs kommen eher zu mir. Sie sind zu stolz, um sich bei den Kollegen auszuheulen, wenn sie von einem Mädchen sitzen gelassen werden.» Legendär die Aktion eines liebestollen Zöglings, der seiner Julia nächtens via Dachrinne einen Besuch abstattete. «Da muss man auch mal ein Auge zudrücken», sagt Mahler und lächelt. Ansonsten, betont sie, sei Jungs der Zutritt zu den Mädchenzimmern untersagt.

 

Die Lehrerschaft ist nicht weltfremd und kennt die kleinen Tricks der Zöglinge wohl: Im Vorderen Geissboden trifft man sich gerne auf ein «Rivella», das – serviert im Limonadenglas – auch so aussieht, doch eigentlich ein Bier ist. Gut zu reden gab auch das Beizenverbot in der Zuger «Why not» Bar nach einer Schlägerei, in die auch ein paar Schüler des Montanas verwickelt waren. Da trifft man sich eben zum Schischa-Rauchen in der «Mantrabar» beim Bahnhof, wo DJ Marc auflegt und Karaokegesang für gute Stimmung sorgt – für die Montanaschüler allerdings nur zu fest gelegten Zeiten.

 

«Ausgang ist ein Privileg, kein Recht», heisst es in der Hausordnung der Schule, und es ist klar, dass die Jugendlichen hier oben weit weniger Freiheiten geniessen als manche Gleichaltrige, die zu Hause bei Mama und Papa wohnen. Konkret: Ausgang gibt es für die obersten zwei Klassen (11. und 12. Schuljahr) nur mit einer Genehmigung, maximal zweimal die Woche bis 23 Uhr, und dies nur, sofern die schulische Leistung «hervorragend» ist. Von Putzdienst und sonstigen Ämtern, die den Alltag betreffen, bleiben die Zöglinge verschont. Die Zimmer aber müssen selber aufgeräumt werden. Zudem dürfen in den Gängen nach 17 Uhr keine Taschen und Kleider mehr rumliegen. Ist dies der Fall, kann die Ware beim Abwart gegen einen Zweifränkler wieder in Empfang genommen werden.

 

«Es sind keine Engel, die hier wohnen, sondern ganz normale Kinder», erzählt Svetlana Petkovic, Krankenschwester im Hause und Gattin des Chef de Service. Die gebürtige Serbin mit der zarten Stimme ist – ebenso wie ihr Mann – ein fester Bestandteil des Montanas und prägt das Internatsleben seit Jahrzehnten. Ihre eigenen Kinder sind bereits erwachsen und studieren in Zürich. Jetzt kümmert sie sich mit dem Herzblut einer Mutter und dem Fachwissen einer Medizinerin um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Montana-Teenager. Bei Kinderkrankheiten und Insektenstichen ist sie im Einsatz, genauso wie bei Bauchschmerzen und Sportunfällen. Einmal, erinnert sie sich, gab es sogar eine gebrochene Nase und ein andermal einen ausgeschlagenen Zahn, «aber das sind natürlich Ausnahmen.» Erkrankt oder verunfallt ein Schüler ernsthaft, chauffiert sie diesen auch mal ins Kantonsspital. Zurzeit ist es aber gerade ruhig im Haus, und Svetlana gönnt sich eine kleine Nachmittagspause. Sie wirft einen Blick zu den Primarschülern, die sich im Speisesaal zum Zvieri einfinden und hungrig auf Honigbrot und Ovomaltine stürzen. «Die Kleinen dürfen noch essen», meint die Krankenschwester schmunzelnd. «Die Grösseren achten dann auf die Linie.»

 

Läuft man dem Gang entlang und späht in die schmalen Sichtfenster der Unterrichtszimmer, winken lauter Hände spontan entgegen. Es sieht so als, als ob die Internationalität der Schule ein (welt)offenes Klima zutage fördert. Wer allenthalben etwas in Spanisch, Englisch, Französisch oder Russisch aufschnappt und virtuos von der einen in die andere Sprache wechselt, hat vielleicht generell ein offenes Ohr, und sei es nur für eine unbekannte Journalistin, die sich im elegant renovierten Trakt «Felsenegg» in ein unterirdisches Schulzimmer verirrt hat.

 

Literaturlehrer Charles Hohmann sitzt da gerade mit vier Jungs zusammen und bittet herein. Doch statt über Kafkas «Amerika», das die Klasse gemeinsam liest, redet man heute über den gemeinsamen Theaterbesuch in Luzern, der – leider, leider – bei der Intendanz Anlass zu Beanstandung gab. Ein paar Schüler hatten beim Nachtessen vor Tschechows «Die Möwe» ein Bierchen zu viel getrunken und entsprechend gut gelaunt der Vorstellung beigewohnt. Die Intendanz war not amused und verlangte eine Entschuldigung. «Die Pubertät», sagt Direktor Schmid, «macht vor dem Zugerberg nicht halt.»

 

Aus Zimmer 211 dringt ein Gekicher, das unmissverständlich auf eine Ansammlung halbwüchsiger Mädchen schliessen lässt. Und tatsächlich! Unter der Bettdecke, im völlig abgedunkelten Zimmer, erzählen sich vier Mädchen Gruselgeschichten und kreischen, dass die Ohren schmerzen. Klar doch, darf man reinkommen, no problem. «Am wichtigsten ist es», sind sich die Mädels einig und machen es sich auf der Matratze bequem, «dass man gute Freundinnen hat.» Sie haken sich ein, grinsen, sind aufgekratzt wie Kinder im Freibad und beruhigen sich allmählich.

 

Pamela (12) sieht ihre Eltern, die in Hongkong wohnen, zweimal im Monat und findet, dass das viel zu wenig sei. Irena (13,) aus Moskau, wollte nach drei Schnuppertagen im Internat erst gar nicht hier bleiben, hatte aber keine andere Wahl. Die Eltern erklärten ihr, dass Moskau zu gefährlich, zu korrupt und zu instabil sei. «Meine Alternative wäre ein Internat in den USA gewesen. Und dahin wollte ich auf keinen Fall.» Auf die Musik der Pussycatdolls fahren sie ab, auf Eminem und 50 Cent. Und punkto Kleider? «Klassisch edel», meint eine zierliche Blonde und zeigt auf die Louis Vuitton Tasche, die am Boden liegt, «oder girly glamour», ergänzt ihre Freundin. Ansonsten Chanel, Dior, Prada, Dolce und Gabbana, Tod’s, Burberry, Rolex - «das Übliche halt.» Auf die Frage, ob das für ihr Alter nicht etwas dick aufgetragen sei, lautet die Antwort: «We don’t think about it, we just have it.»

 

So richtig gut passen die edlen Luxusmarken nicht zum kindlich anmutenden Bettüberwurf, der mit roten Herzen und Lippen verziert ist. Überraschend auch die Poster, mit denen die Mädchen ihre Wände schmücken. Fotos mit der pinkigen Plüschmaus Diddl oder dem gelben Schwammkopf Spongebob hängen da. Doch genau dieser Mix aus Diddl und Dior, dieser Paarlauf zweier Welten, ist es, der auf so simple Weise illustriert: Zwei Seelen wohnen – ach! – auch in der Brust privilegierter Kinder.