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TEXT

Sabine Windlin

DATUM

6.7.2000

WAHRER LINKER

 

Früher war Patrice Mugny Schauspieler und Konzertveranstalter, heute ist er Nationalrat und spielt seine Rolle als Enfant terrible der Genfer Grünen radikal.

 

Der Auftritt ist legendär. Ereignet hat er sich am 6. Dezember 1999. An diesem Tag tat der Genfer Nationalrat Patrice Mugny, 47, etwas, was sich für einen Ratsneuling nicht schickt: An seinem ersten Tag im Bundeshaus, nur wenige Minuten nach der Vereidigung, ergriff er das Wort.

 

Er erdreistete sich, vor versammelter Bundesversammlung gegen die Wahl des alten SVP-Hasen Hanspeter Seiler zum Nationalratspräsidenten zu protestieren. «Die Schweiz», rief er aus, «hat es nicht verdient, dass der Vertreter einer xenophoben Partei das höchste Amt im Land besetzt.»

Sechs Monate danach sitzt Mugny noch fest in seinem Nationalratssessel, wobei sitzen für ihn das falsche Wort ist. Denn lieber steht er. Und redet: Als radikaler Anwalt der Unterdrückten, als Sprachrohr der Minderheiten und Ausländer, als Kämpfer für Menschen in Not. Das Enfant terrible der Genfer Grünen hat sich mit seinen eigenwilligen Auftritten in Bundesbern innert Rekordfrist als oppositioneller Winkelried einen Namen geschaffen.

 

Am 5. Juni, am ersten Sessionstag dieses Sommers, erhob sich Mugny erneut vom Sessel - diesmal, weil die SVP das Arbeitslosengeld für erziehende Mütter und Ausländerinnen kürzen wollte. Sparen auf dem Buckel der Armen? «Jamais!», rief Mugny - niemals, und seine Augen, die sonst jungenhaft offen in die Welt hineinschauen, verengten sich bedrohlich zu Schlitzen.
Am 6. Juni, am zweiten Sessionstag, ging es um die Staatsrechnung. Mugny am Mikrofon: «Der Begriff Gemeinwohl ist aus dem Vokabular verschwunden. Die Milliardenzeche wird von den Schwächeren bezahlt.» Am 7. Juni, am dritten Sessionstag, ging es um Europa. Mugny stand wieder vorne. Die EU-Zögerer, bilanzierte er kühn, hätten doch bloss eins: Schiss vor den Fremden.

 

Mugny verliess mit 17 Jahren die Schule; freiwillig, sagt er, dann haute er ab nach Afrika. Dann wurde er Schauspieler, dann Konzertveranstalter (Rock 'n' Roll), dann Journalist, dann Politiker. Als solcher ist er überzeugt, dass er die Welt verändern kann. Er will: Die gentechfreie Landwirtschaft, eine griffige Lärmschutzverordnung, ein menschenwürdiges Asylgesetz, ein solidarisches Sozialversicherungssystem, die Quotenregelung für Frauen, die Verbannung des Autos und das Ende der Kernenergie.

 

Ein Radikaler? Mugny nickt angriffslustig, als handle es sich bei ihm um eine vom Aussterben bedrohte Gattung des Homo politicus, der man besonders Sorge tragen muss. «Die wahren Linken», sagt er, «sind rar geworden.» Er könne seine politische Identität nicht einfach abstreifen wie ein paar Turnschuhe. Zum offenen Widerstand treibt ihn die «schleichende Tendenz nach rechts».

 

Dass die Deutschschweizer Sozialdemokraten nun plötzlich auf der Liberalisierungswelle reiten, macht ihn «traurig». Seine Weltanschauung ist etatistisch. Er, Sohn eines christlich engagierten Gewerkschafters und einer Sekretärin, glaubt nicht an die Heilswirkung der Privatwirtschaft, die jede Leistung effizienter und günstiger erbringen soll. Da bleibe am Ende plötzlich etwas auf der Strecke: die Gerechtigkeit.


Als der freisinnige Bundesrat Kaspar Villiger im März das Finanzleitbild des Bundesrates vorstellte, stand Mugny im Namen der Gerechtigkeit gleich zweimal am Rednerpult; zuerst um die «unverschämten bürgerlichen Forderungen nach Steuergeschenken» zu geisseln, dann, um daran zu erinnern, dass auch in der Schweiz nicht alle so viel wie Blocher verdienen. «Jeder weiss: 300 000 Menschen leben in der Schweiz unter dem Existenzminimum.»


Jeder weiss - damit beginnt Mugny seine Sätze oft. Jeder weiss was? Mugny legt los: «Dass Steuerhinterziehen hier zu Lande ein nobler Gesellschaftssport ist, und dass Arbeitslose, Asylbewerber, Behinderte und Sozialhilfeempfänger als Schmarotzer denunziert werden.» Dann schwillt seine Stimme an, kraftvoll, fast feierlich verkündet er: «Ich kämpfe gegen den Blocherismus. Dazu hat man mich nach Bern gewählt.» Leidenschaftlich debattiert er, aber nicht verbittert. Denn im Grunde genommen, versichert Mugny, sei er ein Geniesser: Wenn er nicht als Sekretär in der Genfer Parteizentrale arbeitet, macht er lange Spaziergänge, liest oder spielt als Akkordeonist mit seiner Klezmerband an jüdischen Hochzeiten. Wenn Mugny für die Session nach Bern reist, geht er nicht wie alle anderen Parlamentarier ins Hotel, sondern nächtigt bei seinem Freund, einem Europakorrespondenten aus Südamerika.


«Tief im Herzen liebe ich dieses demokratische Land und seine Leute», sagt er über die Schweiz. Wäre da nicht die Vielsprachigkeit, die Mugny manchmal Mühe macht. Diskutiert die Fraktion komplexe Sachgeschäfte, kann das für den Romand, der nur gebrochen Deutsch spricht, ganz schön anstrengend werden. Logisch, wäre er im Rat deshalb lieber neben seinem welschen Fraktionsfreund Fernand Cuche gesessen. Aber nun kommt sein Nachbar eben aus dem Emmental, heisst Bernhard Hess und ist Mitglied der Schweizer Demokraten. Mugny akzeptiert den Kollegen, sagt «Bonjour», «Bonsoir» und «santé», wenn dieser niesst - denn auch Hess, sagt Mugny, «ist ein Mensch».


Wenn andere über Mugny reden, entsteht ein bizarres Bild, das den «Klassenkämpfer», den «Weltverbesserer», «Moralapostel», «Fundi» und «Ökofreak» gleichermassen beinhaltet. Letzterer basiert auf dem Outfit des Genfers, denn äusserliche Gepflogenheiten kümmern ihn nicht. Im Ratssaal erscheint er mit ausgebeulter Hose, Sandalen und weissen Tennissocken - getreu dem Motto «Sein statt Schein». Die Plädoyers aber bereitet er wie ein Musterschüler vor.


Als das welsche Wochenmagazin «L'Hebdo» wissen wollte, ob die linken Politiker das Vokabular der «New economy» verstehen, schnitt Mugny (Mitglied der Eidgenössischen Finanzkommission) blendend ab. Ob «start-up», «stock-options» oder «business-angel»: Er antwortete korrekt. Nur beim Begriff «Amazon.com» haperte es. Frauen, die sich die Brust abschneiden, um auf dem Pferd besser mit dem Bogen zu schiessen? Knapp daneben. Es ist die grösste Internet-Buchhandlung.


Sein Chef, der Grünen-Präsident Ruedi Baumann, ist froh, mit Mugny eine Figur in Bern zu wissen, die für Aufregung sorgt und mitunter schweres Geschütz auffährt. «Mugny zeigt Mut.» Wer lange in Bern sitze, entwickle eine Beisshemmung. «Nicht Mugny. Der beisst zu.» Er beisst Ruth Metzler (CVP), Pascal Couchepin (FDP), Ruth Dreifuss (SP). Metzler, die als «politischer Klon von Arnold Koller» den Flüchtlingen in der Schweiz mit einem generellen Misstrauen begegne - Couchepin, «der die Welt vom Balkon seines Fünfsternhotels betrachtet» - Dreifuss, die sich dauernd der Meinung ihrer bürgerlichen Kollegen anschliesse. «Frau Präsidentin, enttäuschen Sie die engagierten Bürger nicht!», appellierte er in der welschen Tageszeitung «Le courrier», wo Patrice Mugny selber sieben Jahre Chefredaktor war.


Dass er es in Bern fertig bringt, die etablierten Zustände auch mit Witz und Kreativität zu hinterfragen, macht seinen Gegnern freilich Eindruck. Zusammen mit anderen Romands hat Mugny ein Gesetzprojekt zur Änderung der Einbürgerungsbestimmungen ausgearbeitet - als Antwort auf die negativen Abstimmungsentscheide in der Zentralschweiz. Mugny will die abgewiesenen Ausländer einfach in Genf einbürgern. Auch die Idee der «Stiftung Solidarische Millionäre» ist auf dem Mist von Mugny und dem PdA-Nationalrat Josef Zysiadis gewachsen. Sie ist simpel: Die Reichsten des Landes verzichten freiwillig auf ihre AHV-Rente. Das dadurch gewonnene Kapital wird in der Stiftung deponiert und an ausgesteuerte Arbeitslose verteilt.


Mit seinen ärgsten Gegnern macht Mugny kurzen Prozess. «Besteht die Möglichkeit zu verhindern, dass ein notorischer Zuhälter wie Herr Bignasca in diesem Parlament Einsitz nehmen kann?», wollte Mugny vom Bundesrat neulich wissen. Die Antwort war Nein. In Bern ist Platz für Zuhälter und für ehemalige Hausbesetzer. Gott sei Dank, müsste Mugny sagen, sonst wäre auch er nicht dort.

 

ENDE LAUFTEXT

Hoffnung aus dem Westen


Während die Deutschschweizer Grünen serbeln, legen die welschen Grünen an Stärke zu.
wenn Ruedi Baumann, Präsident der Grünen, vom «Trio» spricht, meint er die drei Westschweizer, die seit einem halben Jahr für die GPS im Nationalrat sitzen: Patrice Mugny GE, Genfer Parteisekretär, Anne-Catherine Ménétrey VD, Psychologin, und Fernand Cuche NE, Landwirt. «Mit den drei Welschen», sagt der Berner Baumann, hätte man das grosse Los gezogen. «Die bringen frischen Wind.» Und frische Hoffnung: Denn an den welschen Grünen haftet spätestens seit den letzten Nationalratswahlen die Etikette des Erfolgs. In sämtlichen Kantonen der Romandie haben dort die Grünen an Parteistärke zugelegt. Im Nationalrat hat sich die grüne Westschweiz sogar von einem einzigen Sitz auf drei Sitze gesteigert. Ganz im Gegensatz zur Deutschschweiz: 1999 gehörten sie bei den Nationalratswahlen bereits zum zweiten Mal zu den Verlierern. Jetzt sind sie in Bern - nach Verlusten in Zürich, Basel-Stadt und im Aargau - statt mit acht nur noch mit fünf Personen vertreten.


Möglicher Grund: In der Westschweiz sammelt sich das Protestpotenzial innerhalb der linken, grünen und feministischen Oppositionsparteien. In der Deutschschweiz jedoch sammeln sich die Protestwählerinnen und -wähler - vor allem mangels Alternative - mehrheitlich rechts aussen bei der SVP. Ändern will dies Hubert Zurkinden, der frisch gewählte GPS-Generalsekretär aus Freiburg. «Wir müssen uns in Zukunft auch auf Bundes- ebene wieder vermehrt mit Themen wie Arbeits- losigkeit und Sozialver- sicherungen auseinander setzen.»
Dass dies mit dem Romand-Trio gelingt, davon ist Zurkinden überzeugt. Die sprechen zwar schlecht Deutsch, «sind aber in sozialen Fragen profiliert».